Peter Sloterdijk

Das Ohr ist ein dummes Organ

von Stefan Sell

19. April 2023

Er ist kein Musiker, aber er versteht über Musik zu reden. Und er schrieb für Jörg Widmanns Babylon das Libretto. Ein Gespräch mit dem Philosophen Peter Sloterdijk.

„Das Grau muss man finden”, ein Satz von Cézanne. Wenn einer dieses Grau in aller Diffe­ren­zie­rung und Viel­schich­tig­keit finden kann, dann ist es , dessen zuletzt erschie­nenes Buch auf den Spuren von Grau eine philo­so­phisch ausge­leuch­tete Farben­lehre ergibt. Ich treffe ihn und seine Frau, die Jour­na­listin Beatrice Sloter­dijk, an einem noch sonnenverwöhnten Novem­bertag in ihrer stil­voll einla­dend geräumigen Wohnung in Berlin. Selbst im Winter­garten, wohin wir uns zum Inter­view begeben, steht noch ein Bücherregal. Das man sich gleich wohl fühlt, liegt nicht nur an der Offen­her­zig­keit der beiden, an Kaffee und Konfekt, sondern ebenso an ihrer Hündin Jule, ein Herz und eine Seele von einem Rhode­sian Ridge­back mit markantem Rückenkamm und rot weizen­far­benem Kurz­fell. Freund­lich zurückhaltend nimmt sie Kontakt auf.

»Wir haben hier­zu­land eine oft sehr hochmütige akade­mi­sche Szene.«

Wenn Peter Sloter­dijk, der sich selbst „philo­so­phie­render Schrift­steller” nennt, etwas publi­ziert, dann gibt es hier­zu­lande in den Medien ein breites Echo, in dem, um ein Wort von Chris­tian Hein aufzu­greifen, „viel kriti­siert wird und wenig argu­men­tiert.” Man verliert sich lieber in Äußerlichkeiten und Banalitäten, so scheint es. In Spanien beispiels­weise, wo er gerade noch in Pamplona auf dem Podium war, steht viel­mehr die Rezep­tion seiner philo­so­phi­schen Gedanken im Fokus.

Ihr Werk findet welt­weit Beach­tung, erfährt große Rele­vanz und Rezep­tion, so auch in Spanien.

Das ist dort vor allem deswegen so, weil ich mit Isidoro Reguera einen exzel­lenten Übersetzer gefunden habe. Seine Arbeit hat dafür gesorgt, dass auch in Latein­ame­rika meine Bücher leicht zugäng­lich sind. Mit einer übermenschlichen Anstren­gung hat er die ganze Trilogie „Sphären” ins Spani­sche übersetzt, alle 2500 Seiten. Er war soeben mein Gesprächspartner auf der Bühne in Pamplona – kein Wunder, daß meine Arbeiten durch seine Über­set­zungen in Spanien ziem­lich präsent sind. In Latein­ame­rika ist der Effekt noch ausgeprägter. Dort gibt es zahl­reiche junge Leute, die Disser­ta­tionen über verschie­dene Motive der „Sphären”, über Ko-Immu­nität oder über Probleme der Anthro­po­technik schreiben. Übrigens werden auch die musik­phi­lo­so­phi­schen Hinweise, die ich da und dort verstreut habe, an einigen Orten ziem­lich ernst­haft aufge­nommen, sogar in Deutsch­land. Wir haben hier­zu­land eine oft sehr oberflächliche und hochmütige akade­mi­sche Szene. Ich mache regel­mäßig die Erfah­rung, dass ich mit Archi­tekten, die vor allem aus „Sphären III” Gewinn ziehen, gut reden kann, auch mit Musi­kern, Desi­gnern, Thera­peuten, ganz allge­mein mit Künstlern. Die akade­mi­sche Sphäre in Deutsch­land spielt bei der Rezep­tion meiner Arbeit eine geringe Rolle. In Frank­reich, in Holland, in Spanien und vor allem in Latein­ame­rika sieht es anders aus.

»Dass Musik neu sein soll, ist selbst etwas Neues.«

In Wer noch kein Grau gedacht hat hat mich Ihre Formu­lie­rung ange­spro­chen: „Umfragen würden zeigen, wie tief eine stille Mehr­heit von Menschen in unserem Kultur­kreis längst in den Möbeln der wohl­tem­pe­rierten Lauheit versunken ist, von Raum­tem­pe­ra­turen der Halb­zu­frie­den­heit toni­siert.“ und das trifft, wie ich finde, auch das, was derzeit im Konzert­be­reich zu beob­achten ist. Vor 30 Jahren schrieben Sie schon in dem Buch Welt­fremd­heit unter der Überschrift Wo sind wir, wenn wir Musik hören?: „Die soge­nannte Unter­hal­tungs­musik, die eigent­lich Zerstreu­ungs­musik oder seda­tive Musik heißen müsste, kann eines Massen­pu­bli­kums sicher sein, weil sie die Aufgabe wahr­nimmt, die Hörer vor dem Risiko des Hörens von Neuem zu schützen.” Weiter heißt es: „Durch ihr Erklingen und Wieder­erklingen trans­por­tiert die unter­hal­tende Musik die frohe Botschaft, dass das Bekannte das Unbe­kannte elimi­niert hat. In dieser Sicht gibt es zwischen dem Klassik-Konzert­be­trieb und der U‑Musik nur beun­ru­hi­gend geringfügige Unter­schiede.” Eine Alle­gorie unserer Zeit?

Ja, da zeigen sich mehrere Para­do­xien auf einmal. Was musik­psy­cho­lo­gi­sche Betrach­tungen angeht, zitiere ich gerne eine Bemer­kung des Exilrumänen Emil Cioran, der einmal davon sprach, dass das musi­ka­li­sche Hören wesent­lich ein Wiederhören sei, Musik sei vor allem von der Anamnesis geprägt. Das passt zu der Bemer­kung von Hans Eisler, das Ohr sei ein dummes Organ, weil es die Wieder­ho­lung liebt und das Wieder­erkennen genießt. Was Plato für das Auge sagt, ja, für das Erkennen im Allge­meinen, dass es seiner Tiefen­struktur nach Anamnesis sei, das gilt für die Musik, die die Menschen am liebsten hören, auf ganzer Linie. Das Hören des Neuen ist ein ganz eigenes Phänomen. Dass Musik neu sein soll, ist selbst etwas Neues. Erst um 1800 lässt sich das beob­achten. Bis dahin war das Musikhören entweder das Mitgehen oder Mitsummen mit etwas Bekanntem. Es war auch ganz üblich, dass die Musik im Hinter­grund spielte.

An den Höfen spielten die Musiker auf einer Empore. Davon unberührt wurde darunter geta­felt.

Man hat sie an den Höfen als Hinter­grund­musik geduldet, wie heute die Musik vom Band in Restau­rants und Kneipen. Mir scheint, die Essenz der Klassik – sagen wir etwa ab 1780 – zeigt sich in dem Vorsatz, künftig so zu kompo­nieren, dass das Publikum zum Zuhören gezwungen wird. Musi­ka­li­sche Klassik bedeutet: daran zu arbeiten, dass ein zuge­wandtes Zuhören nicht nur möglich, sondern gefor­dert ist. Man kann die hypno­toide Note, die damals in die Musik als inno­va­tive Kunst hinein­ge­langte, nie genug hervor­heben. Es entstand zuneh­mend Musik, die mit der Erwar­tung nach Wieder­erkennen von schon Gehörtem nicht mehr erfasst werden konnte. Was wir heute Klassik nennen, war ja zu ihrer Zeit schon weit im unerhörten Bereich ange­sie­delt. Man hat vergessen, was die Kata­strophe Beet­hoven einmal bedeu­tete, und noch immer hat man zu tun mit den emotio­nalen Tiefen­aus­lo­tungen, die bei Schu­bert, Schu­mann, Wagner und anderen begannen. Dass man diese Musiken heute wieder und wieder spielt und immer von neuem die Magie des gesam­melten Zuhörens auszu­üben versucht, das hat Gründe in der Sache. Vor wenigen Jahren erlebte ich zwei Mal Klavier­abende mit Sokolov in Salz­burg. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass ich einem quasi musikarchäologischen Ritual beiwohnte. Der Solist kommt herein, wie unter Narkose, setzt sich an sein Instru­ment, einsam wie nie ein Wesen vor ihm, beginnt einen unerhörten Dialog mit Geis­tern aus dem Jenseits, liefert ein paar hoch inspi­rierte Zugaben und geht zuletzt ohne einen Blick ins Publikum hinaus. Da habe ich etwas von den Kräften gespürt, die durch die Kunst­la­wine, die heute Klassik heißt, ausgelöst worden waren. In dem Augen­blick, als die Musik genia­li­siert wurde und ihre repe­ti­tive, konven­tio­nelle, kollo­quiale Kompo­nente beisei­te­stellte, da entstand das, was heute als der klas­si­sche Block im Raum steht. Zudem müssen sich die späteren Kompo­nisten durch inno­va­tive Abwei­chungen verhalten.

»Die Babylon-Partitur ist extrem komplex, sie steht auf dem höchsten Niveau des Hand­werks«

Die Wieder­ho­lung in der Musik hat eine große Bedeu­tung, beim Üben wie bei der Inter­pre­ta­tion. Es gilt zu vari­ieren, damit sie Sinn macht. Sind wir in der Situa­tion, etwas zu wieder­holen, ohne etwas zu ändern?

Wir könnten es nicht, auch wenn wir wollten. Meine eigene musi­ka­li­sche Erzie­hung ist durch die Lied­musik geprägt gewesen, Schu­bert, Schu­mann bis . Das Lieder­hören ist bei mir, wenn man so will, die ursprüngliche Eichung des Ohrs, der Urkam­merton, nach dem ich mich richte. Die stro­phi­sche Form der Lied­musik ist für mich etwas sehr Natürliches. Da schon im Text die Stro­phen nicht gleich sind, sondern die Nach­bar­stro­phen morpho­lo­gisch abwan­deln, ist die Einheit von Wieder­ho­lung und Varia­tion schon am Werk, bevor die Verto­nung beginnt.

Sie haben sich ja nicht nur musik­phi­lo­so­phisch des Öfteren geäußert, Sie haben sich mit Erfolg als Libret­tist in die Welt der Oper einge­bracht. Zu Jörg Widmanns Babylon haben Sie den Text geschrieben. Wie waren hier Ihre Erfah­rungen in Bezug darauf?

Unsere gemein­same Oper bedeu­tete für uns beide eine enorme Erfah­rung, weil wir uns beide zu einem eigenen Vorgehen durch­ringen mussten, gegen einige Dogmen. Auf der sprach­li­chen Seite entschied ich mich gegen einen Zeit­geist, der den hohen Ton nicht leiden kann und dem Pathos feind­lich ist. Babylon schwelgt in pein­lich hohen Tönen. warf einige Dogmen der Neuen Musik über Bord, etwa das strikte Tabu gegen den Wohl­klang, den Verzicht auf Wieder­ho­lungen, den Zwang, von Takt zu Takt inno­vativ zu tönen – was das Recht des Kompo­nisten impli­ziert, das Ohr perma­nent zu überfordern. Die dogma­ti­sche neue Musik provo­ziert eine latent anti­mu­si­ka­li­sche Haltung, da sie den Hörer vom Zustand des echten Zuhörens in den der akus­ti­schen Duld­sam­keit drängt. Die kommt auf, sobald man ein unvor­her­seh­bares Ausmaß an Hörereignissen eher erträgt als genießt oder versteht. Die Babylon-Partitur ist extrem komplex, sie steht auf dem höchsten Niveau des Hand­werks – und sie enthält eine in zeit­ge­nös­si­scher Musik ziem­lich singu­läre Fülle an Schön­heiten, die sich schon im ersten Hören enthüllen.

Wie kommt es, dass Sie so über Musik schreiben können, dass selbst ein Musiker etwas damit anfangen kann? Wo haben Sie das her, obwohl sie kein Musiker sind?

Das hat viel­leicht zwei Gründe. Das eine ist, ich bin zwar Nicht­mu­siker, aber ein solcher kann ja auch ein verhin­derter Musiker sein.”

»Es gibt keinen Zugang zur Musik. Man ist entweder drin oder nicht.«

Wären Sie beinahe Musiker geworden?

Nicht wirk­lich. Ich habe in jungen Jahren mit der Lied­musik geflirtet, habe ein wenig gesungen, hätte mit der Zeit einen ordent­li­chen lyri­schen Bariton abgeben können, viel­leicht. Das hat sich nicht entwi­ckelt. Doch das ist nicht entschei­dend.

Was also ist der zweite Grund?

Wenn manche Musiker mit meinen Bemer­kungen etwas anfangen können, dann hat es sicher damit zu tun, dass es mir manchmal gelingt, das Gefühl völliger Hilf­lo­sig­keit gegenüber dem Universum der Musik zu überspielen. Wenn ich so sehe, was im Konzert­be­trieb geschieht, wenn ich mir bewusst mache, was ich alles nicht gehört habe und nicht kenne und nicht einmal weiß, dass ich es nicht kenne, (lacht) dann hat das etwas Nieder­schmet­terndes. Und wenn man dann an eine Figur wie Baren­boim denkt, der die Beet­hoven-Sinfo­nien auswendig diri­giert und alle Klavier­so­naten intus hat, und wenn man weiß, Beet­ho­vens Oeuvre ist nur ein schmaler Ausschnitt aus seinem inneren Universum, da kann man nur Schil­lers Ode zitieren: „Wer’s nie gekonnt, der stehle /​weinend sich aus diesem Bund!” (lacht wieder). Das ist gemein, nicht? An der Musik ist etwas Uner­mess­li­ches. Es kommt hinzu, dass sie sich jeder Art der Bemäch­ti­gung von außen entzieht. Es gibt keinen „Zugang“ zur Musik. Man ist entweder drin oder nicht. Das kann man von ferne mit der Philo­so­phie verglei­chen. Tausende von Autoren haben Einführungen in die Philo­so­phie geschrieben, kein einziger Philo­soph ist durch eine Einfüh­rung entstanden.“

Sie haben das Grau bei Plato, Hegel, Nietz­sche, Heid­egger gefunden, doch nicht bei allen Philo­so­phen. Sie sagen aber, dass erst, wer das Grau gedacht hat, ein Philo­soph sei. Könnte man sagen, mit ihrem neuen Buch haben Sie sich überhaupt erst in den Stand eines Philo­so­phen geschrieben?

„Ja, könnte man fast sagen (lacht) … Besser spät als nie.”

Fotos: Antonia Jacobsen