Philippe Jaroussky
»Ich wünsche mir, dass niemand klatscht«
von Anna Novák
11. Mai 2022
Philippe Jaroussky, der Countertenor mit der Engelsstimme, erzählt, warum er dieses Kompliment nicht gerne hört und was die Gedichte von Paul Verlaine mit gutem Bordeaux zu tun haben
Paris, Théâtre des Champs-Elysées. Es ist ein kühler, aber sonniger Dezembertag und Philippe Jaroussky führt uns durch das hübsche Theater. Er fühle sich an diesem Ort wie Zuhause, erzählt der Countertenor, weil er hier so oft gesungen habe. Nachher muss er zum Tontechniker, die letzten Korrekturen an seinem neuen Album machen. Er wirkt entspannt und gut gelaunt, und wir machen es uns im Ballettsaal gemütlich. Hier probten die Tänzer vor über 100 Jahren für die Uraufführung von Le Sacre du Printemps.
CRESCENDO: Philippe, als wir Sie das letzte Mal 2011 interviewt haben, sagten Sie, Sie wollten lernen auch mal „Nein“ zu sagen. Und, haben Sie’s gelernt?
Philippe Jaroussky: (lacht) Nein. Mein Terminplan von September bis Juli ist der vollste, den ich in meiner Karriere bisher hatte. Mit vielen unglaublichen Projekten, Aufnahmen, einer neuen Rolle auf der Bühne – ich werde Alcina singen, das war schon immer mein Traum! Da kann man ja nicht „nein“ sagen. Ich bin jetzt 36, fühle mich mit meiner Stimme noch wohler als früher – das muss ich doch genießen, bevor es zu spät ist. Es gibt noch eine Menge zu tun, bis ich 45 bin!
»Tatsächlich fühle ich mich besonders französisch, wenn ich Zeilen von Verlaine singe.«
Na dann los: Nach viel virtuoser Oper veröffentlichen Sie jetzt ein Doppelalbum mit Liedern nach Gedichten des großen französischen Dichters Paul Verlaine. Erinnern Sie sich noch an das erste Gedicht, das Sie von Verlaine gehört haben?
Das war in der Schule, ich war vielleicht elf oder zwölf. Ein Französischlehrer stellte uns das Gedicht „Prison“ vor, in dem ein Gefängnisinsasse beschreibt, was er sieht und hört. Die Geräusche der Stadt, die Vögel vor dem Fenster. Ich fand das Gedicht ziemlich anziehend. Vielleicht bin ich so sehr an Verlaine interessiert wegen diesem Lehrer? Wie schön, dass ich wieder daran erinnert werde.
Vor ein paar Jahren haben Sie das Album „Opium“ gemacht, darauf haben Sie auch französische Lieder gesungen.
Das Verlaine-Projekt ist ein bisschen wie eine Fortsetzung aber doch sehr viel spezifischer, mehr konzeptionell. Ich denke schon seit vielen Jahren darüber nach, ein solches Projekt zu machen. Und jetzt, wo ich es konnte, sind es gleich zwei komplette Stunden Musik auf zwei CDs geworden. Verlaine ist für uns Franzosen ein echter Held. Tatsächlich fühle ich mich besonders französisch, wenn ich Zeilen von ihm singe. Diese Facette von mir möchte ich mit dem Publikum teilen.
Ist dieses besondere „französische“ Gefühl, das Sie haben, auch der Grund, warum Verlaines Lyrik damals so viele Komponisten inspiriert hat, sie in Musik zu setzen?
Ich vergleiche das immer gerne mit dem Metastasio-Libretto im Barock. Es gibt einfach Stücke, die vertont man, um zu zeigen, dass man es kann. Genauso ist es mit manchen Werken von Verlaine. Da hatten Komponisten Faurés Vertonung im Kopf und haben sich gedacht: Das kann ich doch besser machen.
Warum haben Sie nur ein paar Gedichte Verlaines ausgesucht, die sie dann in unterschiedlichen Vertonungen vorstellen?
Ich wollte nicht nur die bekannten Komponisten zu Wort kommen lassen, sondern auch die unbekannteren. Es gibt mehrere Kriterien, warum man ein Stück aufnehmen kann: 1. Weil es unbekannt ist, aber eine tolle Qualität hat. Oder 2. weil es eine besonders kontrastierende Vergleichbarkeit gibt, wie beispielsweise bei C’est l’extase. Da gibt’s eine Vertonung von Fauré und eine von Saint-Saëns, die könnten unterschiedlicher gar nicht sein. Warten Sie, ich zeig’s Ihnen! Das muss man hören! (Er holt sein Handy heraus und spielt seine Aufnahme vor) Bei Fauré ist das Stück sehr langsam und atmosphärisch. Bei Saint-Saëns das Gegenteil. Da perlt es vor sich hin. Zwei komplett unterschiedliche Mentalitäten, zwei unterschiedliche Varianten von Ekstase.
Haben Sie sich deswegen entschieden, weniger Gedichte auszuwählen, dafür diese in vielen unterschiedlichen Vertonungen vorzustellen?
Ja. Man kann Stunden damit verbringen, zu vergleichen. Gerade bei Fauré und Saint-Saëns ist es erstaunlich unterschiedlich: Oft geht’s bei Fauré in der Phrase hoch, in der gleichen geht’s bei Saint-Saëns mit der Melodie runter. Das Gute bei Verlaine ist: Man kann seine ganzen Recherchen von Zuhause machen. Es gibt eine Seite im Netz, da gibt man „Verlaine“ ein und kann alle Vertonungen von allen Gedichten einsehen. Ein Meer von Musik! Aber es war richtig schwer, sich zu entscheiden …
Das Quatuor Ebène spielt bei einigen Stücken mit. Durften die mit aussuchen?
Die haben mir vertraut. Ich kenne das Quatuor Ebène gut und wusste, was man mit ihnen machen kann. Wir haben ja die Arrangements für die gemeinsamen Lieder selbst geschrieben. In einem Stück müssen sie jetzt sogar mitsingen. Für mich ist die Zusammenarbeit mit dem Quartett ein ganz tolles Erlebnis. Ich bezeichne mich ja gerne selbst als „frustrierten Geiger“. Schließlich habe ich früher Geige gelernt und wollte immer gerne in einem Quartett spielen. Wenn ich jetzt mit dem Quatuor Ebène auf der Bühne stehe, ist es, als wäre ich ein Teil von ihnen. Sie haben tolle Energie und bringen viel frische Luft auf die Bühne.
»Ich wollte das Paris, in dem Verlaine damals lebte, darstellen.«
Ist das Cover des Albums eine Referenz an die Zeit, in der Verlaine lebte?
Auf jeden Fall. Das Tolle an diesem Projekt ist für mich, dass ich endlich die Leute, um die es geht, auch mal als Foto abbilden kann – sonst gab es immer nur Gemälde oder Karikaturen von den Komponisten. Jetzt wollte ich das Paris, in dem Verlaine damals lebte, darstellen. Und auf dem Cover sitze ich tatsächlich in Verlaines Lieblingscafé, dem berühmten Café Procope in Paris. Es gibt Fotos von ihm, wie er da genau so sitzt und einen Wein trinkt.
Warum trägt das Album den Titel „Green“?
Erst wollte ich es „Das Verlaine Album“ nennen, aber es ist momentan ziemlich modern, Alben nur ein knackiges Wort als Titel zu geben. Und da erinnerten wir uns an das Leben von Verlaine, was wahrlich nicht einfach war: Er hat versucht, den Dichter Arthur Rimbaud umzubringen, landete im Gefängnis und verbrachte seinen Lebensabend mit der Trinkerei. Jemand schlug also den Titel „Absinth“ vor – aber ich kann doch kein Album „Absinth“ nennen, wenn das Vorgänger-Album „Opium“ heißt (lacht). Aber Absinth wird ja auch die „grüne Fee“ genannt und tatsächlich gibt es ein wunderschönes Gedicht von Verlaine mit dem Titel „Green“, eine Liebeserklärung an besagten Rimbaud. Ich habe drei Vertonungen von Green aufgenommen. Das passt doch perfekt. Es ist kurz, es ist eine Farbe und der Name ist auch noch international. Ich bin so modern! (lacht)
Wagen Sie schon eine Prognose, wie das neue Repertoire aufgenommen wird beim Publikum?
Beim deutschen Publikum mache ich mir da gar keine Sorgen. Die sind ja Liederabende und Rezitale gewöhnt. In Frankreich ist das ein bisschen anders. Ich habe das Gefühl, die Menschen haben ein Problem mit ihrem eigenen Repertoire. Diese französischen Lieder gelten oft als altmodisch.
»Ich sage nicht, dass meine Interpretation die ultimative Wahrheit ist, aber es ist mein Standpunkt.«
Wieso denn das?
Ich glaube, es hat etwas mit der Sprache zu tun. Meist werden diese Lieder in alter französischer Aussprache gesungen, also beispielsweise mit gerolltem R in „Frrrrance“. Das mache ich nicht. Ich singe die Stücke in der modernen Aussprache, sodass es klingt, als würde ich ganz normal sprechen. Ich sage nicht, dass das die ultimative Wahrheit ist, diese Stücke zu interpretieren – sie ist es nicht, denn früher wurde es ja anders gemacht – aber es ist mein Standpunkt! Und mein Versuch, dem Publikum näher zu kommen.
Vor der Aufnahme haben Sie schon drei Konzerte mit dem Verlaine-Programm gegeben. Hat das denn geklappt?
Ich habe das schon damals bei „Opium“ gemerkt: Manche Leute sind ein bisschen überrascht oder geschockt, dass ich plötzlich auf französisch singe, in meiner Muttersprache, ganz direkt und dann noch mit dieser hohen Stimme. Das Programm ist wirklich ganz anders als virtuose Oper. Standing-Ovations und kreischende Fans kann man da vergessen – das Programm wird ja wie ein Liederabend präsentiert. Das Publikum hat kaum die Zeit, sich in ein Lied einzufinden. Manchmal ist nach zwei Minuten schon alles vorbei. Deswegen versuche ich auch, keinen Applaus zwischen den Stücken zu haben. Ich genieße die Stücke genauso wie die Stille dazwischen. Die ist genauso wichtig. Um sich in eine andere Welt einzufühlen, braucht es keinen Applaus zwischendurch. Niemand klatscht mitten in Schuberts Winterreise. Also muss das in diesem Programm auch nicht sein. Ich versuche eine Brücke, einen Spannungsbogen zu schaffen.
Den Applaus gibt’s dann nach dem Konzert?
Ehrlich gesagt: Je älter ich werde, desto weniger brauche ich diesen Applaus überhaupt. Ich würde auch fünf Minuten Stille nach einer tollen Arie genießen. Dann hat man Zeit, sich in die neue Welt einzufühlen. Und man hat eine intimere Verbindung zum Publikum. Die sind doch da, um Musik zu hören und ich bin da, um Musik zu machen. Es geht nicht um das Feiern meiner Person. Als junger Mensch braucht man diese Unterstützung und Bestätigung, denn man muss auf der Bühne so viel beweisen, gerade in der klassischen Musik. Aber jetzt? Jetzt würde ich mir wünschen, dass einmal nach dem Konzert einfach keiner das Bedürfnis hat, zu klatschen. Das wäre komisch – aber großartig!
»So, wie Edith Piaf und Jacques Brel ihre Chansons singen, kommen sie dieser Musik oft näher als Opernsänger.«
Brauchen diese französischen Lieder eine andere Vorbereitung als die virtuose Barockarie?
Ja, es ist etwas komplett anderes. Beim Lied bin ich viel nackter, wie ich da auf der Bühne stehe und ein Gedicht vortrage. In der Oper kann man ja immer noch schauspielern, wie verzweifelt man doch ist. Aber ich habe das Gefühl, wenn man beim Lied etwas zu sehr forciert oder ein Wort zu sehr betont, dann leidet die Poesie darunter. Ich bewundere die Art, wie Edith Piaf und Jacques Brel ihre Chansons singen. Sie kommen dieser Musik oft näher als irgendwelche Opernsänger.
Weil sie sich ganz in ihre Lieder hineinwerfen und keine Angst haben, auch mal hässlich zu singen?
Ich glaube genau das ist es. In der Oper muss man sich immer auf seine Stimme konzentrieren. Natürlich kann man auch beim Lied technisch arbeiten, aber darum geht es nicht in erster Linie, sondern dass man das, was man sich vorstellt, transportiert. Beim Lied-Repertoire musst du ein Risiko eingehen!
Und man ist nur zu zweit …
Das ist aber auch die Chance, tiefer in die Musik einzusteigen und viel schneller zu reagieren. Mit einem 20-Mann-Orchester hat man oft nicht die Zeit, vorher so viel zu proben. Zu zweit ist das anders und mein Pianist Jérôme Ducros und ich kennen uns schon lange und gut. Wir müssen gar nicht darüber sprechen, dass ich eine Stelle plötzlich im leisesten Piano singen will – er reagiert einfach direkt.
Mit Ihrem Verlaine-Projekt schwimmen Sie momentan ein bisschen gegen den Strom. Ihre Countertenor-Kollegen scheinen hauptsächlich auf virtuose Arien zu setzen.
Also ich bin mir sicher, dass ich mir für das Programm auch Kritik werde anhören müssen, à la „Das ist doch gar nicht für Countertenöre geschrieben.“ Stimmt auch. Aber sind wir mal ehrlich: Fast nichts ist für Countertenöre geschrieben! Als Alfred Deller damals angefangen hat, als Countertenor zu singen, wurde als eines der ersten Stücke der Sommernachtstraum umgeschrieben. Wir können viel aussuchen und probieren. Und ich freue ich, mal wieder eine andere Richtung einzuschlagen.
Sie haben ja auch viel Kastraten-Repertoire gesungen.
Ja klar. Ich kann das immer nur mit ein bisschen Scham eingestehen: Natürlich sind diese Kastraten-Arien ein wunderbarer Weg, um Erfolg beim Publikum zu haben. Auch so viele Sopran-Kolleginnen singen jetzt dieses Repertoire, weil es einfach elektrisierend ist. Da kriegt man Standing Ovations! Natürlich nicht so einfach, denn diese Stücke sind richtig schwer. Aber wenn man es kann, dann klappt᾽s.
»Verlaines Lieder sind wie ein guter Bordeaux, den man nach und nach zu schätzen lernt.«
Dann steht das Publikum Kopf?
Exakt. Aber dieses Repertoire zeigt mir persönlich auch die Grenzen meiner Stimme auf. Bei den Liedern nach Verlaines Gedichten ist das anders. Das fühlt sich viel natürlicher an. Warum sollte ein französischer Countertenor nicht auch französische Poesie ausdrücken dürfen? Hier geht’s gar nicht um Stimmumfang oder Virtuosität, sondern um Sensibilität für diese Musik. Wenn man diese virtuosen Arien hört, ist es, als tränke man Champagner. Verlaines Lieder sind eher wie ein guter Bordeaux, den man erst nach und nach zu schätzen lernt. Manchen Liedern muss man eine zweite und dritte Chance geben, bis man ihre Schönheit komplett erfassen kann. Das ist nicht einfach, denn wir leben in einer Gesellschaft, in der man alles gleich beim ersten Hören mögen muss.
Ist das eine Tendenz in der Klassik-Szene?
Ja. Und ich habe das Gefühl, dass wir immer mehr Spektakel wollen. Damit verpassen wir aber einen großen Teil des klassischen Repertoires! Ich muss regelmäßig Schubert hören, denn er löst ein anderes Gefühl in mir aus. Warum muss man immer positiv und lustig sein? Unterhaltend und spektakulär? Damit zerstört man die Bandbreite der Gefühle, die Musik eigentlich auslösen kann. Einer der schönsten Momente ist, wenn jemand nach dem Konzert zu mir kommt und sagt: „Ich hätte weinen können.“ Das heißt übrigens nicht, dass ich aufhören werde, barockes Repertoire zu singen. Aber ich werde in Zukunft mehr Projekte machen, bei denen es nicht um Virtuosität geht.
Welche Projekte haben Sie da im Kopf?
Eines meiner wichtigsten Projekte wird Bach sein. Und Bach ist ja auch virtuos – auf eine ganz andere Art und Weise. Aber ich habe schon ein bisschen Sorge vor meinen ersten Konzerten mit Bach in Deutschland – auf Deutsch … Es ist der Punkt in meiner Karriere, an dem ich gerne mehr Bach singen will und auch das Risiko der Sprache eingehe. Ich hoffe, Sie vergeben mir, auch wenn es nicht ganz perfekt ist.
Keine Sorge, die Deutschen lieben französischen Akzent!
(zögert und grinst) Auch bei Bach?
Aber es geht ja in der Musik nicht nur um Perfektion, oder?
Früher war ich ein echter Kontrollfreak und wollte, dass alles perfekt ist. Mittlerweile habe ich gelernt, dass es auf Perfektion nicht ankommt. Wenn ich eine Phrase gesungen habe, die in Farbe und Ausdruck magisch ist, aber ein Ton nicht hundert Prozent sauber intoniert ist – dann behalte ich sie trotzdem. Perfektion ist nicht das, was die Leute bewegt.
Was hat sich noch verändert für Sie seit „Opium“ 2009?
Damals wollte ich den Leuten beweisen, dass ich dieses Repertoire singen kann. Jetzt ist mir die Meinung der anderen vollkommen egal. Ich hatte so viel Freude, diese Lieder zu singen, so viel Energie, so viel Spaß. Darauf kommt es mir an. Bei „Opium“ hatte ich echt Angst. Und ich hatte recht, denn die französischen Kritiken waren am Anfang schrecklich. Manchmal gab es in ein und demselben Magazin zwei Rezensionen. Eine für das Album und eine dagegen. Mittlerweile mag ich solche kontrovers diskutierten Projekte. Oft sagen die Leute über mich, ich sei so ein netter, süßer Typ mit dieser Engelsstimme. Manche finden mich deswegen langweilig. Mit einem Projekt wie dem Verlaine-Projekt, gehe ich gerne wieder ein Riskio ein. Und vielleicht überzeuge ich damit manchen vom Gegenteil.