Sasha Waltz
Unbeirrbar, unverkennbar
von Dorion Weickmann
24. Mai 2023
Ihre Kunst ist konsequent, ihre Karriere einzigartig, 2023 feiert sie zwei runde Geburtstage: Seit bald dreißig Jahren erarbeitet die sechzigjährige Choreografin Sasha Waltz immer neue Kreationen mit der eigenen Kompanie.
Der schwärzeste Tag ihrer Laufbahn liegt knapp drei Jahre zurück. An einem Januarvormittag 2020 trat Sasha Waltz mit ihrem Co-Intendanten Johannes Öhman vor die Presse, um zu verkünden: aus und vorbei für das Doppelspitzen-Modell am Staatsballett Berlin. Wie die Lage war, ließ sich damals gut beobachten. Öhman hatte (zu Recht) ein schlechtes Gewissen, Waltz zeigte sich (zu Recht) verärgert und persönlich getroffen, weil vor vollendete Tatsachen gestellt. Denn der schwedische Tanzkurator, mit dem die Choreografin die Hauptstadttruppe zu führen gedachte, hatte an ihr vorbei dem Kultursenator mitgeteilt, er wolle zurück nach Stockholm. Und der Kultursenator hatte eingewilligt.
Mit Männern im Kulturbetrieb hat die Künstlerin wohl keine allzu guten Erfahrungen gemacht. Ausnahme: ihr Ehemann Jochen Sandig, mit dem sie 1993 die Kompanie Sasha Waltz & Guests gründete – ein Erfolgsmodell, bis zum heutigen Tag. Die beiden sind ein Dreamteam, das in der deutschen Kulturlandschaft seinesgleichen sucht: sie die Macherin auf der Bühne, er der Macher hinter den Kulissen. Deshalb stehen dem unfeinen Ende des Staatsballett-Engagements viele Triumphe entgegen und eine künstlerische Bilanz, die allemal mehr Höhe- als Tiefpunkte sowie zahlreiche Ehrungen verzeichnet.
Begonnen hat diese Karriere mit dem Tanzstudium an der renommierten School for New Dance Development in Amsterdam. Bis 1986 hat sich die Tochter einer Galeristin und eines Architekten dort ausbilden lassen, dann schwirrte sie ab nach New York, die Kapitale des New Dance jeder Art. Von Anfang an hat Waltz den Brückenschlag gesucht, zur Musik, zur Bildenden Kunst, zu inspirierenden Kolleginnen und Kollegen. Zurück in Europa, gelang ihr binnen weniger Jahre der Durchbruch. Spätestens mit dem Auftakt ihrer Travelogue-Trilogie Twenty to Eight, avancierte sie vom Geheimtipp zur hochgehandelten Nachwuchskünstlerin. Das 1993 uraufgeführte und 2007 revitalisierte Wohngemeinschaftsdramolett hat alles, was eine choreografische Handschrift ausmacht: eigenwillige Bewegungsregie, Formbewusstsein, souveräne Dramaturgie. Dass es zudem mit Witz und Hintersinn operiert, ist aus Publikumssicht ein großer, weil eher seltener Pluspunkt.
Gleichwohl geht aufs Konto von Twenty to Eight auch das vielleicht größte Missverständnis, das im Zusammenhang mit Waltz« Arbeiten kursiert, denn: „Tanztheater“ à la Pina Bausch oder Folkwang ist das nicht, sondern ein höchst eigenwilliger Ansatz, der das Tänzerische keinen Augenblick lang dem Theatralischen oder Theaterhaften opfert.
Tatsächlich hat Waltz in den Folgejahren und ‑jahrzehnten konsequent eigene Wege beschritten – etwa mit choreografischen Opern – und sich ganz dezidiert mit Themen, Komponisten, Werken auseinandergesetzt, die sie selbst faszinierten. So gelangen Signaturstücke an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert – etwa die Post-DDR-Lektion Allee der Kosmonauten (1996), die intensiven Körper-Studien (2000), gefolgt von noBody (2002), die Dialoge-Reihe mit staunenswerten Museumseröffnungen von Berlin bis Rom, Schubert-Impromptus (2004) und Rihms Jagden und Formen (2008), Continu als Hommage an den Ausdruckstanz (2010), eine Neuinterpretation zum Hundertjährigen von Le Sacre du printemps (2013), schließlich das erdige Kreatur (2018) und die Post-Lockdown-Variante der Dialoge im Berliner Radialsystem, betitelt Relevante Systeme.
Die Relevanz der Choreografin hat Berlin erst im Lauf der Jahre erkannt und finanziell so weit gewürdigt, dass eine gewisse Planungssicherheit gegeben ist. Von der Idee, eine Kompanie mit festangestellten Tänzerinnen und Tänzern zu unterhalten, musste Waltz sich indes verabschieden – schlicht unbezahlbar. Was umso schwerer wiegt, als sie ein eigenständiges Repertoire aufbauen, Stücke an nachfolgende Generationen weitergeben will. Unermüdlich bringt Waltz neue Inszenierungen heraus und arbeitet dabei mit einem über die Jahre vertrauten Ensemble, zu dem regelmäßig neue Gesichter stoßen. Auf diese Weise hat Sasha Waltz & Guests auch aus der Pandemie das Beste herausgeholt, nämlich eine ästhetische und logistische Veränderung, die auf die Gegenwart und ihre Hausforderungen reagiert.
In C, Terry Rileys minimalistische Partitur von 1964, hat Sasha Waltz in ein vitales, kraftvolles Opus verwandelt – leger getanzt und heller gefärbt als ihre vorangegangenen Stücke. Die Wechselwirkung zwischen den 53 Sequenzen der Komposition und dem Bewegungsmosaik der 2021 uraufgeführten Choreografie ist berückend und überdies zukunftsweisend. In C soll wie ein Rhizom weiterwachsen und ‑gedeihen, mal von Profis, mal von Amateuren, mal von beiden gemeinsam präsentiert. Und das möglichst weltweit.
So schwebt es der Choreografin vor, die 2023 nicht nur den In C-Radius erweitern will, sondern gleich zwei Großprojekte auf der Agenda hat: Im März wird sie Beethovens Siebte auf die Bühne bringen, im September das dreißigjährige Bestehen von Sasha Waltz & Guests feiern – nicht mit großem Tamtam. Ist nicht ihre Art.
Und dann? Wird sie sich mit Johann Sebastian Bach beschäftigen. Kreativ wie eh und je.