Orfeo in Augsburg

André Bücker

Liefer­ser­vice für Virtu­elle Opern­welten

von Maria Goeth

7. November 2020

Das Staatstheater Augsburg bringt mittels VR-Brille virtuelle Opernwelten ins Wohnzimmer. Der Intendant André Bücker rief für die Spielzeit 2020/2021 sogar eine eigene Digitalsparte ins Leben.

Vorne die in Halb­schatten getauchten schroffen Silhou­etten einer post­apo­ka­lyp­ti­schen Groß­stadt mit tiefen, düsteren Stra­ßen­schluchten. Von links und rechts nähern sich hagere, in lange tief­schwarze Gewänder gehüllte Gestalten – ihre Kapuzen tief in die Gesichter gezogen – haben sie über­haupt welche oder sind es Untote? Der Blick zurück öffnet sich auf eine ganze Phalanx dieser Gestalten unter dem kalt flackernden Neon­licht asia­tisch anmu­tender Leucht­re­klamen…

André Bücker, Intendant des Staatstheaters Augsburg mit der Virtual-Reality-Brille
Schwelgt in virtu­ellen Opern­welten: , der Inten­dant des Staats­thea­ters , mit der Virtual Reality-Brille
(Foto: © Jan-Pieter Fuhr)

Ein bizarrer Alptraum? Nein, man befindet sich mitten in der Unter­welt aus Chris­toph Willi­bald Glucks ed Euri­dice und zwar mittels Virtual-Reality-Brille – ja, diese ein biss­chen wie schwarz getönte Taucher­brillen anmu­tenden Käst­chen, die man sonst nur von Compu­ter­spiel-Freaks kennt. André Bücker, Inten­dant des Staats­thea­ters Augs­burg, hat für seine Insze­nie­rung der Gluck-Oper mehrere hundert solcher Brillen ange­schafft. Mehr­mals kata­pul­tiert er damit das Publikum während der laufenden Oper in virtu­elle Paral­lel­welten. Noch nie wurde VR-Technik in diesem Umfang im künst­le­ri­schen Bereich einge­setzt! Und dadurch, dass jeder Zuschauer seinen Blick rundum indi­vi­duell richten kann, hat jeder auch ein einzig­ar­tiges Erlebnis. „Die Virtual Reality Sequenzen sind so reich und viel­fältig gestaltet, da reicht einmal gucken nicht, man kann gar nicht alles erfassen“, verrät Bücker. „Man taucht in eine andere Dimen­sion ein.“

André Bücker: »Wir haben originär für den digi­talen Raum neu produ­ziert, ein Reper­toire für Virtual-Reality-Brillen aufge­baut.«

Als die Première im Mai 2020 wegen COVID-19 zunächst verschoben werden musste, steckten die Augs­burger nicht den Kopf in den Sand, sondern trieben die Sache im Gegen­teil mit Hoch­druck voran: Sie produ­zierten weitere digi­tale Virtual-Reality-Formate in 360°-Perspektive. „Das war unglaub­lich aufre­gend“, schwärmt Bücker. „Wir haben künst­le­ri­schen Output gene­riert, der nicht darin bestand, irgend­welche Wohn­zim­mer­vi­deos zu machen oder alte Auffüh­rungen zu streamen, sondern haben originär für den digi­talen Raum neu produ­ziert, ein Reper­toire für VR-Brillen aufge­baut.“ Neben dem Musik­theater ist dabei auch Tanz und Schau­spiel vertreten – etwa Nikolai Gogols Tage­buch eines Wahn­sin­nigen oder eine Choreo­gra­phie zu Maurice Ravels Boléro.

Orfeo ed Euridice als virtuelle Opernwelt
Chris­toph Willi­bald Glucks Oper Orfeo ed Euri­dice als virtu­elle Opern­welt
(Foto: © Heim­spiel GmbH und Chris­tian Schläffer)

Und damit diese brand­neuen Inhalte auch zu ihren Zuschauern kommen, wurde kurzer­hand mit einem orts­an­säs­sigen Liefer­ser­vice koope­riert. Für ein paar Stunden können sich die Augs­burger eine VR-Brille mit ihrer Wunsch­pro­duk­tion ins Haus liefern lassen. Das Inter­esse war riesig! „Jeder weiß, dass es solche Brillen gibt, aber die wenigsten haben es je auspro­biert“, weiß Bücker. „Es gab eine riesige Neugier!“ Mit dem Liefer­ser­vice kann man sich im Prinzip gleich noch die Flasche Wein und das mitbringen lassen – oder eine Stoff­ta­sche vom . Darüber hinaus kann man sich über die Website des Thea­ters die Produk­tionen aber auch welt­weit in die eigene VR-Brille holen.

André Bücker: »Wir machen wirk­li­ches Digital-Theater, eine span­nende Form, die mit den Mitteln des Thea­ters auf digi­talem Wege produ­ziert.«

Bücker hat in den letzten Jahre immer wieder mit digi­talen Mitteln gear­beitet, mit Program­mie­rern, mit Video­technik und aktuell eben mit Virtual Reality. Bei letz­terer koope­riert das Theater mit Heim­spiel GmbH, einer Augs­burger Produk­ti­ons­firma für Film, Design, Anima­tion, 3D und Audio. Der nächste Schritt war ein logi­scher: „Nachdem wir so viel Know-how gesam­melt, so viel Hard­ware und Soft­ware ange­schafft hatten, sollte das der Grund­stein sein, um weiter auf diesem Gebiet zu entwi­ckeln, zu forschen und künst­le­risch tätig zu sein. Das habe ich immer als den Auftakt zu einer fünften Sparte bezeichnet“, so Bücker. Seit September hat er sich deshalb Tina Lorenz als Projekt­lei­terin für Digi­tale Entwick­lung ins Haus geholt. Sie ist nicht nur erfah­rene Drama­turgin, sondern wurde auch im Chaos Computer Club, der legen­dären euro­päi­schen Hacker-Verei­ni­gung, sozia­li­siert und ist Expertin in Sachen digi­tales Theater.

Probenfoto zu Orfeo ed Euridice
Proben­foto zu Orfeo ed Euri­dice am Staats­theater Augs­burg
(Foto: © Jan-Pieter Fuhr)

„Im kommenden halben Jahr werden wir in jedem Monat eine Première in unserer Digi­tal­s­parte haben“, kündigt Bücker an. Dass er dabei in Konkur­renz zur Film- oder Compu­ter­spiel-Indus­trie tritt, fürchtet er nicht: „Wir machen wirk­li­ches Digital-Theater, eine span­nende Form, die mit den Mitteln des Thea­ters auf digi­talem Wege produ­ziert. Da gibt es zwar Elemente des Gamings oder Films, aber das Funda­ment ist das Theater. Ich verspreche mir davon neue, inter­es­sante Perspek­tiven für das Publikum.“

André Bücker: »Die Virtual-Reality-Brille setzt man auf, und das Ding spielt. Man muss keinen Knopf drücken, man muss sich nicht ins WLAN einwählen und kein Kabel einste­cken.«

Dabei ist für Bücker die größt­mög­liche Barrie­re­frei­heit absolut zentral: „Auch Menschen, die nicht mal ihr Smart­phone richtig bedienen können, sollen damit klar­kommen! Wir wollen die Leute frust­frei an die Technik heran­führen! Bei den VR-Brillen ist es so: Man setzt sie auf, und das Ding spielt. Man muss keinen Knopf drücken, man muss sich nicht ins WLAN einwählen und kein Kabel einste­cken – das funk­tio­niert absolut zuver­lässig“, begeis­tert sich Bücker. Ledig­lich für Epilep­tiker ist die VR-Tech­no­logie leider nicht geeignet.

Orfeo ed Euridice am Staatstheater Augsburg
Chris­toph Willi­bald Glucks Oper Orfeo ed Euri­dice als virtu­elle Opern­welt
(Foto: © Heim­spiel GmbH und Chris­tian Schläffer)

Aber läuft man dabei nicht Gefahr, dass die Technik zum Selbst­zweck wird? Braucht Theater Geschmacks­ver­stärker? Im Orfeo sind Unter­welt, Elysium und die finale Lösung durch Gott Amor ästhe­tisch völlig unter­schied­lich gestaltet – inklu­sive einer inter­es­santen inter­pre­ta­to­ri­schen Über­ra­schung, die man klas­sisch-analog nicht hätte erzählen können. Das ist der Punkt, der Bücker inter­es­siert: „Es geht nicht um tech­ni­sche Gimmicks, sondern um drama­tur­gi­sche Gedanken, die dem tech­ni­schen Einsatz zu Grunde liegen. Das Publikum wird im wahrsten Sinne des Wortes in eine neue Dimen­sion gebracht – eine Verschmel­zung zwischen Live-Theater, Live-Musik, Live-Sängern und animierter 360°Grad-Realität.“

Kann es passieren, dass das Digi­tale irgend­wann dem Live-Ereignis das Wasser abgräbt? „Das hat man, als das Fern­sehen aufkam, ja auch schon befürchtet“, lacht Bücker. „Das Theater ist durch gar nichts zu ersetzen! Das will auch niemand! Aber es gibt inter­es­sante, span­nende Weiter­füh­rungen! Die können, dürfen und sollen alle neben­ein­ander exis­tieren wie unter­schied­liche Genres!“

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Aufführungstermine von Orfeo ed Euridice am Staatstheater Augsburg: 5., 10. und 22. Dezember 2020. Termine für 2021 befinden sich in Planung.
Weitere Informationen zu Orfeo ed Euridice am Staatstheater Augsburg unter: staatstheater-augsburg.de
Weitere Informationen zum Bestellservice vr-theater@home unter: staatstheater-augsburg.de 

Und weitere Beiträge zum Thema Digitalisierung in der Kunst auf CRESCENDO.DE:
Die Experimentellen Filmkunstwerke zum Thema Oper auf der digitalen Plattform 3e Scène der Pariser Oper 

Fotos: Heimspiel GmbH und Christian Schläffer