Steinway u.a.
Besinnung auf Individualität
von Ruth Renée Reif
10. September 2019
Klavierhersteller bieten wieder breitere Klangvielfalt. Steinway gilt nicht mehr als alleiniger Maßstab. C. Bechstein und Bösendorfer arbeiten an der Umsetzung eines eigenen Klangbildes.
Betritt man den neuen Showroom von Steinway & Sons am Maximiliansplatz in München, sticht einem sofort ein roter Flügel ins Auge. Legen die Klaviere allmählich das Ehrfurcht gebietende Schwarz ab, das seit den 1960er-Jahren ihr Aussehen bestimmt? Keineswegs, es handelt sich um einen Ferrari-Flügel. Er trägt das Rot des italienischen Sportwagenherstellers.
Steinway verstand es von Anfang an, ein offensives Marketing zu betreiben, der Marke ein luxuriöses, fortschrittliches Image zu verleihen und sie zu einem Mythos werden zu lassen. William Steinway, der Sohn des Firmengründers, legte den Grundstein dafür. 1872 finanzierte er eine Konzertreise des russischen Pianisten Anton Rubinstein und zahlte ihm für 215 Auftritte 80.000 Dollar. Die Tournee erregte ungeheures Aufsehen, und Steinway wurde dabei im gleichen Atemzug wie Anton Rubinstein genannt.
Dank des digitalen Systems Spirio kann man Lang Lang ins häusliche Wohnzimmer holen.
Heute ist Lang Lang, dem sogar ein Flügel gewidmet ist, der große Steinway-Künstler, gefolgt von Yuja Wang. Und dank des digitalen Systems Spirio kann man Lang Lang nicht nur im Konzertsaal erleben, sondern auch ins häusliche Wohnzimmer holen. Man sieht ihn zwar nicht auf der Klavierbank sitzen. Aber man kann beobachten, wie die Tasten von seinen unsichtbaren Händen angeschlagen werden, und man hört und fühlt sein großartiges Spiel.
Spirio sei die Innovation seit 70 Jahren, unterstreicht man in der Marketingabteilung von Steinway in Hamburg. Fünf Jahre habe ein technisches Team in New York an der Entwicklung des Systems gearbeitet. Die Markteinführung sei sodann in den USA, Singapur und Großbritannien getestet worden. 2016 kam es in Deutschland auf den Markt. Vom Erfolg sei man überwältigt gewesen. Jeder vierte verkaufte Flügel sei bereits ein Spirio, und die Pianisten stünden Schlange, um sich aufnehmen zu lassen. Über 3.500 Titel umfasse die Bibliothek bereits, darunter auch historische Aufnahmen. Selbst Vladimir Horowitz könne man sich ins Wohnzimmer holen. Im Kaufpreis eines Spirio-Flügels inbegriffen ist ein monatliches Update auf dem mitgelieferten Apple iPad, von dem aus das System mittels einer App gesteuert wird, über die gesamte Lebensdauer des Instruments hinweg. Mittlerweile steht die nächste Generation vor der Markteinführung. Spirio | r soll im Herbst 2020 auf den deutschen Markt kommen. Damit wird es möglich, auch das eigene Spiel aufzunehmen, zu bearbeiten und wiederzugeben.
Steinway & Sons war nicht der erste Klavierhersteller, der einen Flügel mit Selbstspielmechanik herausbrachte. Aber es gelang dem Unternehmen, damit den Markt zu öffnen und neue Käuferschichten zu gewinnen. Im Blick hatte es vor allem China, dessen Oberschicht sich gerne mit westlichen Prestigeobjekten umgibt. Zu spüren aber war der Schub auch auf dem heimischen Markt, und er kam den Mitbewerbern ebenfalls zugute.
Der Markt für Klaviere schrumpft. Davon wissen alle Händler zu berichten. In den 1960er-Jahren hätte man mehr Klaviere verkaufen können, als es gegeben habe. Ende der 1980er-Jahre erfolgte der Einbruch. Nicht wenige Hersteller blieben auf der Strecke, manche hielten sich mit Notverkäufen über Wasser oder wurden selbst verkauft. Auch Steinway & Sons ging durch mehrere Hände. Aber es behauptete seine nach dem Zweiten Weltkrieg eroberte Marktführerschaft im Premiumbereich und seine Dominanz auf den Podien. Der klare, brillante Klang mit dem glockigen Diskant, der einen Steinway-Flügel auszeichnet, wurde als zeitgemäß empfunden und zum Maßstab.
Die Zeiten, da alle so klingen wollten wie ein Steinway, scheinen vorüber.
Seit der Wende zum 21. Jahrhundert taucht jedoch wieder mehr Vielfalt auf. Die Zeiten, da alle so klingen wollten wie ein Steinway, scheinen vorüber. Die Marken haben sich emanzipiert und besinnen sich auf ihre Individualität und jenes Klangbild, auf dem ihr Ansehen gründet. C. Bechstein und Bösendorfer, die mit Steinway einst die großen Drei bildeten, streben danach, diese Stellung zurückzuerobern.
Gearbeitet wird am Klang, seinen Farben und seinem Volumen. Die Probleme, mit denen sich Sänger herumschlagen, weil die Orchester immer lauter und brillanter klingen wollen, treffen auch die Pianisten. Insbesondere beim romantischen Repertoire, das die Programme mehr denn je dominiert, brauchen sie einen Flügel, dessen Klang sich gegenüber dem Orchester behaupten und von den übrigen Instrumenten abheben kann. Einiges tut sich daher im Klavierbau. Die Fertigungstiefe wird gesteigert. Produktionsteile, die bisher zugekauft wurden, stellt man wieder selbst her. C. Bechstein fertigt seit 2015 eigene Hammerköpfe, um seine Vorstellung eines transparenten Klangs mit großem Farbenreichtum vom feinsten Pianissimo bis zum stärksten Fortissimo verwirklichen zu können.
Musikliebhaber, die selbst spielen, wissen den warmen, obertonreichen, singenden Klang und die leicht gängige Klaviatur zu würdigen.
Auf die Frage, wer einen Bechstein kaufe, kommt bei Piano Fischer, dem C. Bechstein Centrum München, eine eindeutige Antwort: wertkonservative Familien, die das europäische Klangbild schätzten. Musikliebhaber, die selbst spielen, wissen den warmen, obertonreichen, singenden Klang und die leicht gängige Klaviatur zu würdigen. Sie sind die Zielgruppe des Unternehmens, das 1853 zur Zeit der Industrialisierung und des aufstrebenden Bürgertums in Berlin gegründet wurde und der größte europäische Klavierhersteller ist. „Unsere Kunden spielen selbst“, betont man nicht ohne Stolz. Gleichzeitig habe sich der Verkauf von Instrumenten an Hochschulen und Konzerthäuser gesteigert, wie der Pressevertreter des Unternehmens hervorhebt. Im Mozarteum, dem Royal College of Music London, dem Brucknerhaus in Linz, dem Konzerthaus Berlin und vielen anderen wichtigen Institutionen stünden heute wieder Bechstein-Flügel. Auch Pianisten wie Kit Armstrong, Saleem Ashkar oder Abdel Rahman El Bacha konzertierten regelmäßig auf C.-Bechstein-Konzertflügeln.
Die allmählich einziehende Abwechslung an Marken in Musikhochschulen begrüßt man auch bei Klavier Hirsch, dem Fachgeschäft für Bösendorfer in München. Es sei wichtig für die Zukunft, den Studierenden unterschiedliche Klangerfahrungen zu vermitteln. Für den Sprung auf die internationalen Podien konstruierte Bösendorfer sogar einen neuen Konzertflügel. Gewiss werde das Flaggschiff der Marke, der legendäre Imperial mit seiner Klaviatur von acht vollen Oktaven, weiterhin gebaut. Doch Bösendorfer musste sich ebenfalls der Forderung nach größerem Volumen stellen.
Nachdem der 1828 gegründete und damit am längsten bestehende Klavierhersteller im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten und mehrmals verkauft worden war, hatte ihn 2007 der japanische Instrumentenhersteller Yamaha übernommen. 2015, als Bösendorfer im niederösterreichischen Wiener Neustadt erstmals wieder Gewinne vermelden konnte, stellte er den Konzertflügel 280VC vor. Die Buchstaben „VC“ stehen für „Vienna Concert“ und verweisen auf den warmen, weichen Bösendorfer-Klang, der sich an den Streichern der Wiener Philharmoniker orientiert und dem der Flügel, ungeachtet seiner technischen Neuerungen und der zusätzlichen klanglichen Brillanz, treu bleiben sollte.
Der Flügel VC ist das Ergebnis einer Symbiose alter Handwerkskunst und computergestützter Konstruktions- und Fertigungstechnik. Weiterentwickelt wurde die komplette akustische Anlage, wozu bei Bösendorfer auch das Gehäuse gehört. Die gesamte Kastenwand sowie die sogenannte Raste, die unten im Flügelgehäuse als Auflage für den Resonanzboden und den Gussrahmen dient, wird bei Bösendorfer aus Klangholz, das heißt Fichte, gefertigt. Die Seitenwände können daher nicht in scharfer Rundung gebogen werden, sondern weisen nach alter Bauart eine Ecke auf. Das Hauptaugenmerk des Konstrukteurs lag auf dem Resonanzboden, seinen Rippen und vor allem seiner Krone, jener kleinen Kuppel an der Oberseite, die sich sanft in Richtung der Seiten wölbt.
Auf dem Flügel VC kann man sich zu Hause sogar ein Konzert von Rachmaninow oder Rubinstein geben lassen.
András Schiff präsentierte den Flügel 280VC am 3. Juni 2018 im Wiener Konzerthaus. Er bekam eine Sonderanfertigung in Pyramidenmahagoni. Sein Wunsch war eine eigene Konzeption, die an einen alten Hammerflügel des 18. Jahrhunderts erinnert, mit deutlich unterschiedenen Registern: Bass, Mitte und Diskant. So habe die Wiener Klassik geklungen, erläutert er in einem Video. Haydn, Mozart und Beethoven hätten in diesem Sinne komponiert.
Auf dem Flügel VC kann man sich zu Hause sogar ein Konzert von Rachmaninow oder Rubinstein geben lassen. Denn der Flügel ist mit der Reproduktionstechnik Disklavier Enspire ausgestattet. Bösendorfer begann bereits in den 1980er-Jahren, mit Sensortechnikern zu experimentieren, um das Spiel anschlagsgetreu aufnehmen und wiedergeben zu können. 2005 stellte er das System CEUS vor. Nach der Übernahme durch Yamaha erhielt er Zugang zu dessen Reproduktionssystem Disklavier Enspire und damit einer ausgereiften Technik. 2017 kam die erste Bösendorfer Disklavier Enspire Edition heraus. Sie ermöglicht auch die Aufnahme und Wiedergabe des eigenen Spiels. Damit werde „Ihr Spiel so unsterblich wie die Kompositionen großer Meister“, verspricht Bösendorfer.