Streichquartett-Biennale
Ein gelungenes Beginnen
von Ruth Renée Reif
10. Dezember 2022
Mit aufregender zeitgenössischer Quartettliteratur und herausragenden Quartettformationen fand unter dem Motto »MENSCH – KLANG – RAUM – MODERNE« die Erste Streichquartett-Biennale statt.
Der Hausherr, der Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, Professor Dr. Bernhard Maaz, persönlich begrüßte die Gäste und sprach vom Zusammenspiel der Künste. Sechs Streichquartette spielten an verschiedenen Orten des in Dunkelheit gehüllten Gebäudes, mal in der Rotunde vor den Fliederblüten von Olga Golos, mal am Fuß einer der Treppen nach unten, mal auf einer der Treppen nach oben. Die Medienkünstlerin Manuela Hartel hat für die einzelnen Orte fraktale Lichtspiele entworfen, die das Spiel der Musiker begleiteten.
Am Beginn stand die Auseinandersetzung mit dem Genre selbst. Das 2018 von den GeigerInnen Alex Jussow und Jelena Galić, der Bratschistin Lilya Tymchyshyn und der Cellistin Bettina Kessler gegründete Malion Quartett brachte das Erste Streichquartett von Jörg Widmann zur Aufführung, mit dem dieser 1997 in die Gattung einstieg. Der erste Satz thematisiert mit geräuschhaften Klangfragmenten die Schwierigkeiten des Anfangens, ehe sich die Bratsche mit einem langen Solo befreit. Auch John Adams, der mit dem zweiten Satz seines Ersten Streichquartetts vertreten war, rang mit der Tradition und bezeichnete das Schreiben eines Streichquartetts als eine der schwierigsten Herausforderungen, der ein Komponist sich stellen könne.
An die 2016 in Berlin verstorbene Komponistin Ursula Mamlok, deren Geburtstag sich 2023 zum 100. Mal jährt, erinnerte das Klenke Quartett. Die Geigerinnen Annegret Klenke und Beate Hartmann, die Bratschistin Yvonne Uhlemann und die Cellistin Ruth Kaltenhäuser, die bereits seit drei Jahrzehnten gemeinsam musizieren, spielten Mamloks Zweites Streichquartett. Es bedient sich der von dem Komponisten und Mathematiker Milton Babbitt weiterentwickelten Zwölftontechnik. Mamlok hatte es, gegliedert in die drei Sätze With fluctuating tension, Larghetto und Joyful, 1998 in den USA fertiggestellt, wohin sie seinerzeit vor dem Nationalsozialismus geflohen war. Carolin Shaws Punctum ist inspiriert von Roland Barthes letztem, im Jahr seines Todes erschienenem Buch Die helle Kammer. Barthes verweist darin mit „punctum“ auf die Register der Emotionen, der Überraschung, dem Unerwarteten in Fotografien. Shaw sucht dieses Empfinden musikalisch nachzubilden, indem sie Sequenzen von Johann Sebastian Bachs Choral-Satz Befiehl du deine Wege aus dem Zusammenhang reißt und neu aneinanderreiht.
Mit Black Angels. 13 Images from the Dark Land des 2022 verstorbenen Komponisten George Crumb brachte das von den GeigerInnen Stefan Kirpal und Gundula Kirpal, der Bratschistin Alba González i Becerra und dem Cellisten Stephen Ristau 1998 in München gegründete Diogenes Quartett ein Kultstück der modernen Streichquartettliteratur zur Aufführung. Im Autograf trägt das 1970 entstandene Werk die Anmerkung „in tempore belli“, und Crumb schrieb es als Reaktion auf die Schrecken des Vietnamkrieges. So enthält es eine Vielzahl programmatischer Anspielungen und Symboliken.
Mit neuer Streichquartettliteratur wartete das 2000 von dem Geiger Rostislav Kozhevnikov, der Geigerin Barbara Streil, dem Bratschisten Justyna Sliwa und dem Cellisten Teemu Myöhänen ins Leben gerufene Asasello Quartett auf. (ENGEL, …) NOCH TASTEND aus dem Jahr 2018 ist ein Auftragswerk der vier MusikerInnen, den sie im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit Arnold Schönberg erteilten, und Lisa Streich erkundet darin „die Zwischentöne, die sich hinter den notierten Noten ergeben“. Sergej Newski knüpft mit seinem 2022 im Auftrag des Asasello Quartett komponierten Vierten Streichquartett an sein 2009 komponiertes Drittes Streichquartett an, und abermals ertastet er aus Klang und Berührung allmählich eine Struktur, die sich durch fortwährende Verwandlung entwickelt und Episode auf Episode folgen lässt.
Den krönenden Abschluss der Biennale bestritten das Henschel Quartett und das Modern String Quartet. Die Geiger Christoph Henschel und Mario Korunic, die Bratschistin Monika Henschel und der Cellist Clemens Weigel brachten Kaleidoskop, das Steffen Wick im Auftrag des Quartetts zu dessen 25. Jubiläum 2019 komponiert hatte, zur Aufführung. „Ein Verweilen im Schönen ist nicht gegeben“, erläutert Wick, der auch anwesend war, die Struktur seines Werks. „Wir werden aus dem betrachtenden Moment herausgerissen, alles wirbelt durcheinander, bis sich eine weitere temporäre Ordnung von faszinierender Gestalt bildet.“
Und mit Jazz-Variationen von Modest Mussorgskis Bilder einer Ausstellung schloss sich der Kreis. Das Modern String Quartet, dem die Geiger Jörg Wildmoser und Winfried Zrenner, der Bratschist Andreas Höricht und der Cellist Thomas Wollenweber angehören, führte die Besucher wieder zurück in die Wirklichkeit. Die vom Festival4 e.V. in Zusammenarbeit mit der Pinakothek der Moderne anlässlich deren 20. Jubiläum ins Leben gerufene Erste Biennale war ein gelungenes, mutiges Beginnen, dem man voll Vorfreude eine erfolgreiche Fortsetzung wünscht.