Elbphilharmonie
Unfassbar – fünf Kilogramm Wahnsinn für die Orgel
von Guido Krawinkel
23. September 2019
Ein Tag mit der Zweiten Orgelsinfonie von Kaikhosru Shapurji Sorabji in der Elbphilharmonie – ein Tag, an dem Musikgeschichte geschrieben wird.
8.20 Uhr: An diesem Sonntagmorgen ist die Hamburger Hafencity nahezu menschenleer. Vereinzelt haben schon Cafés geöffnet. Nur Möwen hört und sieht man überall. Ich befinde mich auf dem Weg zur Elbphilharmonie, wo heute – keine Übertreibung! – Musikgeschichte geschrieben wird. Der britische Organist Kevin Bowyer führt die Zweite Orgelsinfonie von Kaikhosru Shapurji Sorabji auf, ein Wahnsinnswerk. Oder das Werk eines Wahnsinnigen? Die Partitur umfasst 350 DIN A3-Seiten, die reine Spieldauer beträgt gut neun Stunden. Bowyer hat die Sinfonie zwar schon mehrere Male gespielt, eine Aufführung in Iowa, die 2017 ebenfalls für einen Tag angesetzt war, blieb jedoch unvollendet. Bowyer musste im zweiten, gut vier Stunden dauernden Satz einen Teil auslassen. Die Anstrengung war zu groß. In Hamburg unternimmt er erneut einen Versuch.
Der Organist Kevin Bowyer gibt dem Publikum eine Einführung in das außergewöhnliche Werk Sorabjis.
(Fotos, oben und Titel: Guido Krawinkel)
10.45 Uhr: Es ist richtig familiär in der Elbphilharmonie. Das Publikum bleibt überschaubar, der große Saal füllt sich nur langsam, ist am Ende höchstens zu einem Drittel gefüllt. In die oberen Etagen unter der Saaldecke verirrt sich kaum jemand. Sorabji ist offenbar doch etwas zu speziell, selbst für das Elphi-hungrige Publikum. Für Musiker indes auch: Kevin Bowyer ist aktuell der einzige Organist, der die ersten beiden Sinfonien Sorabjis vollständig gespielt hat. Es gibt noch eine Dritte, aber die soll noch schwerer sein als die ohnehin schon als nahezu unspielbar geltende Zweite.
Der Organist Thomas Cornelius übernimmt die Aufgabe, die Noten auf dem Touchscreen mittels Fernbedienung „umzublättern“. (Foto: Guido Krawinkel)
11 Uhr: Kevin Bowyer und Thomas Cornelius, Organist an der Elbphilharmonie, betreten die Bühne. Es gibt eine kurze Einführung. „So lange, wie ich in der Lage sein werde zu spielen, werden Sie in der Lage sein zuzuhören“, macht Bowyer dem Publikum Mut. Dafür, dass er gleich eine geradezu herkulische Aufgabe in Angriff nehmen will, wirkt er erstaunlich gefasst. Auch Thomas Cornelius steht ein Marathon bevor. Er muss die Noten auf dem Touchscreen, der auf dem Notenpult des Orgelspieltisches steht, mittels Fernbedienung „umblättern“ und die Registrierungen weiterschalten. Das verlangt höchste Konzentration. Die oft auf mehr als drei Systemen notierte Musik Sorabjis ist hochkomplex. 1475 Klangkombinationen hat Kevin Bowyer für die Zweite Sinfonie vorbereitet. Gedauert hat das gut und gerne 12 Tage: 60 Stunden, die er vor einem Jahr schon mal an der Orgel verbracht hat, und im Vorfeld dieses Konzertes dann nochmal 20.
Kevin Bowyer beginnt zu spielen, und Akkordgebirge türmen sich auf. (Foto: Guido Krawinkel)
11.16 Uhr: Es geht los. Nachdem Bowyer sich nochmal für einige Minuten gesammelt hat, betritt er die Bühne und beginnt. Akkordgebirge türmen sich auf, zahllose Melodielinien mäandern scheinbar ziellos umher, verheddern sich, verschwinden im musikalischen Nirwana, in das Kevin Bowyer sich und sein Publikum gerade katapultiert. Sorabjis Musik passt in keine Kategorie. Hochkomplexe rhythmische Verschachtelungen, ebenso gigantische wie vielschichtige architektonische Strukturen und eine höchst schillernde, zwischen Tonalität und Atonalität changierende Harmonik machen diese Musik zu einem absoluten Unikum. Ich bin zunächst völlig erschlagen, überwältigt. Offenbar auch ein Teil des Publikums. Es dauert keine Viertelstunde, dann verlassen die ersten Zuhörer den Saal.
Ein Blick nach der Pause in den Saal: Die Reihen haben sich gelichtet. (Foto: Guido Krawinkel)
12.26 Uhr: Die erste Pause. 70 Minuten hat allein die Introduktion der Zweiten Sinfonie gedauert. Ein Klacks gegenüber dem, was mir und dem Publikum noch bevorsteht. Bei der Rückkehr in den Saal zeigt sich: Die Reihen haben sich weiter gelichtet.
Kaikhosru Shapurji Sorabji wurde 1892 in Essex geboren und starb 1988 in Dorset.
13.33 Uhr: Der zweite Satz beginnt, ein Thema mit immerhin 50 Variationen. Nonstop gespielt, wären das über vier Stunden Musik. Zum Glück gibt es nach Variation 28 nochmal eine Pause. Die Musik ist nun etwas zugänglicher. Mystische Akkorde wabern zu Beginn durch den Elphi-Weinberg, duftige Harmonien entströmen dem großen Reflektor unter der Decke, wo auch ein Teil der insgesamt 69 Register der Orgel untergebracht sind. Die Hauptorgel begleitet das mit pastellfarbenen Klängen. Sorabji, geboren 1892 in Essex und gestorben 1988 in Dorset, hatte 1929 zunächst den ersten Satz vollendet und danach liegengelassen. Erst 1932 wurden auch die restlichen beiden Sätze fertig.
Exzessive Doppelpedalpassagen, über sämtliche Manuale mäandernde Melodieketten, komplexeste rhythmische Verstrickungen – Kevin Bowyers Spiel ist beeindruckend. (Foto: Guido Krawinkel)
14.01 Uhr: Kevin Bowyer ackert sich unbeirrbar Takt für Takt durch die Partitur, pflügt unermüdlich durch ziemlich wilde Partien, aber auch durch ruhigere Gewässer. Als Hörer bin nicht nur ich jetzt im Flow. Die Spieltechnik Bowyers ist phänomenal. Exzessive Doppelpedalpassagen, über sämtliche Manuale mäandernde Melodieketten, komplexeste rhythmische Verstrickungen, alles spielt er mit stupender Ruhe und absoluter Souveränität. Beeindruckend.
15.01 Uhr: Zweite Pause. Wird auch Zeit, der Sekundenschlaf wird immer mächtiger. An der Bar fachsimpeln Sorabji-Enthusiasten euphorisch über Pedalteilungen und Registrierungen. Einer hat das ganze Programmheft bis auf den letzten Millimeter vollgekritzelt mit Notizen. Da staunt auch der Journalist.
Die Leistung Kevin Bowyers ist unfassbar. Er spielt weiter und immer weiter. (Foto: Guido Krawinkel)
15.42 Uhr: Einige Zuhörer gehen nur wenige Minuten nach der Pause, obwohl sie die Musik schon vorher erlebt haben. Warum jetzt? Bowyer unterdessen spielt und spielt und spielt und spielt und … Einfach unfassbar diese Musik. Die Choralfantasien von Max Reger scheinen nichts dagegen. Die gigantomanischen Dimensionen dieser Musik – ohnehin ein Markenzeichen für Sorabjis Werke – sind erdrückend. Bowyer hat zuweilen durchaus damit zu kämpfen. Aber er spielt weiter. Immer weiter. Auch das: unfassbar. Nur gelegentlich wischt er sich den Schweiß von der Stirn, wenn gerade mal eine Hand frei ist. Aber das ist nicht oft der Fall.
18 Uhr: Ende des ersten Teils. Es folgt eine zweistündige Pause, um 20 Uhr geht es weiter. Essen. Denn das Catering der Elbphilharmonie mag für „normale“ Konzerte gerüstet sein, bei diesem Mammutkonzert bräuchte man schon etwas mehr als Bier und Brezeln.
Mystisch und geheimnisvoll beginnt das große Finale. (Foto: Guido Krawinkel)
20.05 Uhr: Nach einer nochmaligen kurzen Einführung durch Thomas Cornelius beginnt das große Finale. Mystisch, verhalten, geheimnisvoll. Drei Stunden Musik stehen mir und dem Publikum noch bevor.
21.07 Uhr: Die erste Fuge der abschließenden Tripelfuge beginnt. Aufgeben kommt jetzt nicht mehr in Frage. Eigentlich. Ein Teil des aufgefrischten Publikums ist jedoch schon vorher gegangen. Und Bowyer? Der spielt und spielt und … Er legt Sturheit, Kondition und Durchhaltevermögen eines Extremsportlers an den Tag.
Ein gewaltiger Orgeldonner beschließt das gut neunstündige Werk. (Foto: Guido Krawinkel)
23.10 Uhr: Die Musik verdichtet sich zusehends, massive Akkorde ballen sich zusammen wie drohende Vorboten eines schrecklichen Gewitters. Dann endlich ist es vollbracht: die große Eruption, ein Schlussakkord, der mit gewaltigem Orgeldonner alles bisher gehörte zu bündeln scheint. Schluss. Ende. Aus. Kevin Bowyer sackt kurz zusammen, dann richtet er sich auf, wird vom verbliebenen Publikum frenetisch gefeiert. Minutenlang. Zu Recht. Es ist zweifelsohne eine epochale Leistung, die er heute vollbracht und auf die er sich jahrzehntelang vorbereitet hat. Hat da jemand Zugabe gerufen?
Kevin Bowyer dankt den noch verbliebenen Zuhörern für den frenetischen Applaus.
(Foto: Guido Krawinkel)
23.21 Uhr: Backstage. Kevin Bowyer ist erleichtert, bekommt erst mal ein kühles Bier. Seine ausgedruckte Partitur, die er als Backup dabei hatte, verschenkt er frisch signiert an Thomas Dahl, den Kirchenmusiker der Hamburger Hauptkirche St. Petri. Fünf Kilogramm Papier, voll bedruckt mit Noten. Vielen Noten. Ich werde beizeiten nachfragen, wie weit Dahl schon mit dem Üben gekommen ist…
Sorabji ist und bleibt ein Solitär. Rätselhaft. Geheimnisumwoben. Von seiner Musik leben musste er nie. An Aufführungen war er lange nicht interessiert. Wenn man einen Tag mit dieser nahezu unspielbaren Musik verbracht hat, beginnt man zu ahnen, warum. Aber vielleicht ging es ihm mit seinen Werken auch nicht um Musik, sondern um die Suche nach dem Transzendenten, über die menschliche Existenz Hinauswachsenden. Kevin Bowyer jedenfalls ist an diesem Tag in geradezu übermenschlicher Weise über sich hinausgewachsen.
23.30 Uhr: Fußmarsch ins Hotel. Ein bisschen Bewegung tut nach einem ganzen Tag rumsitzen und zuhören ziemlich gut. Es bleibt ein unwirkliches Gefühl. Ist es tatsächlich schon vorbei? War das alles? Unfassbar.
Weitere Informationen über Leben und Werk des Komponisten Kaikhosru Shapurji Sorabji bietet das Sorabji Archiv: www.sorabji-archive.co.uk