Woher kommt eigentlich ...
Die Zensur?
von Stefan Sell
10. Februar 2019
Die Angst vor der Zügellosigkeit und den Neuerungen der Musik.
Artikel 5 des Grundgesetz besagt: „Eine Zensur findet nicht statt.“ In einer Verteidigungsrede mahnte Cicero: „Frei sind unsere Gedanken.“ Das beschwor im 12. Jahrhundert der Sänger Walter von der Vogelweide und bestätigte im 16. Jahrhundert Johannes Agricola mit seinen Sprichwörtern. So singen die Menschen bis heute: „Und sperrt man mich ein im finsteren Kerker, das alles sind rein vergebliche Werke; denn meine Gedanken zerreißen die Schranken und Mauern entzwei: die Gedanken sind frei.“
Konfuzius (551–479 v. Chr.) Behauptung „Wenn die Welt im Chaos versinkt, werden ihre Rituale und ihre Musik zügellos“, lässt den Umkehrschluss zu: Wenn Musik zügellos wird, wird auch die Welt chaotisch. Vielleicht ist das die Maxime hinter aller Musikzensur: Die Angst, dass sich das Chaotische nicht mehr führen lässt. Und etwas Führungslosem kann man sich nicht bemächtigen. Ein Grund, warum Zensur besonders in autoritären Regimen gedeiht.
Ausschließen, ignorieren, totschweigen
100 Jahre nach Konfuzius präzisiert Plato in Der Staat: „Vor Neuerungen der Musik muss man sich in Acht nehmen, denn dadurch kommt alles in Gefahr.“ Alles Neue in der Musik fällt leicht unter den Verdacht den herrschenden Verhältnissen gefährlich zu werden. Neu heißt manchmal einfach nur anders, den Erwartungen nicht entsprechend. Das Atonale, der Jazz, der Tango, aber auch die ursprünglich fremden Töne Bachs oder das einst Unerhörte Beethovens, selbst Intervalle, wie das aus drei Ganztönen bestehende Teufelsintervall Tritonus oder das Fortschreiten in Quint- wie Oktavparallelen konnten Teil einer Verbotsliste sein.
Es gab eine Zeit, in der das Kastrieren männlicher Jugend sinnvoller schien als Frauen am öffentlichen Musikleben teilhaben zu lassen. Das wirft die Frage auf, ob Zensur nicht viel weitläufiger ist als das reine Verbot. Jemanden ausschließen, ignorieren, in den Medien totschweigen kann eine Form der Zensur sein. Ein Künstler, der nicht erwähnt wird, existiert nicht auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Der Verriss in einer Konzertbesprechung oder Rezension ist der Versuch, das Voranstreben eines Künstlers zu hemmen.
Eine ewige Durststrecke
Lieber wird Musik toter Komponisten gespielt als die der Avantgarde. Was Tonträger und Aufführung der klassischen Musik betrifft, führen nach wie vor tote Komponisten die Playlisten an. Das AirPlay der populären Radiosender ist auch in Deutschland verdächtig einheitlich, zeigt in der renitenten Wiederholung immer gleicher Titel, Rotation genannt, dass – offen hörbar – alle anderen ausgeschlossen bleiben sollen.
Selbst Förderungen, Stipendien, Wettbewerbe, adelnde Preisverleihungen werden letztendlich von einer tonangebenden Élite bestimmt. Wer nicht zu den Glücklichen zählt, weiß, professionelles Musikmachen kann eine ewige Durststrecke sein. Selbst Bewunderung und Verehrung haben etwas Ausgrenzendes.
Erst geköpft, dann gehangen, dann gespießt auf heiße Stangen
Oft sind es die Texte zur Musik, die Anlass zum Verbot geben. Doch was soll auf den Index? „Du hast ein Galgengesicht, das ist genug. Erst geköpft, dann gehangen, dann gespießt auf heiße Stangen, dann verbrannt, dann gebunden, und getaucht, zuletzt geschunden.“ Oder: „Mit jedem Schwung meines Hammers schlage ich deinen verdammten Kopf ein bis Hirn durch die Risse sickert, Blut raus tropft.“ Ersteres stammt aus Mozarts Oper Die Entführung aus dem Serail und ist Teil einer Arie des Harems-Aufsehers Osmin, zweites steht auf dem Index und ist eine Textzeile aus Hammer Smashed Face der vielfach indizierten Heavy Metalband Cannibal Corpse. Interessant noch zu erwähnen, dass diese Band auf ausdrücklichen Wunsch von Jim Carey in dessen Hollywood Blockbuster Ace Ventura auftaucht.
Umstritten auch die Performance der Rapper Kollegah und Farid Bang, die den an Verkaufszahlen orientierten ECHO-Preis zu Fall brachten. Ihre sexistischen und antisemitischen Parolen waren bekannt und dennoch bekamen sie eine Bühne. Warum durfte statt ihrer nicht die Antilopen Gang mit Songs wie Beate Zschäpe hört U2 auftreten, die nicht nur explizit und kritisch Stellung zu dem Fall bezogen, sondern auch Texte gegen rechtsradikales Denken bieten können. Ist es nicht rechtens, dass die Bundesprüfstelle rechtsradikales Gedankengut indiziert? Sicherlich, denn dieser Art Texte sollte nicht einmal für ein Zitat Raum gegeben werden. Schließlich lautet Artikel 1 des Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar.