Daniel Barenboim
Wer Menschlichkeit zensiert, zensiert die Kunst
von Axel Brüggemann
8. Februar 2019
Über die dringende Aufgabe der Kulturpolitik, die eigenen Strukturen und das eigene System auf den Prüfstand zu stellen.
Nein, Zensur im klassischen Sinne gibt es nicht, wurde mir neulich in Abu Dhabi versichert, als ich das Gastspiel der Bayreuther Festspiele mit der Walküre begleitete. Aber natürlich würde die Kulturbehörde vorab schon Mal schauen, was auf die Bühnen des Landes kommt und was in den Büchern und Zeitungen gedruckt wird – aber Zensur? Nein.
Es ist für einen Westeuropäer leicht, bei derartigen Formulierungen den moralischen Zeigefinger zu heben. Und ja, das sollte man auch tun! Aber es gibt auch eine andere Perspektive. Hinter vorgehaltener Hand wird dem Kultur-Touristen in Abu Dhabi auch erzählt, dass Musik an sich bereits ein Statement sei, im Kampf gegen den IS und jede Form des radikalen Islam, der Musik grundsätzlich verbietet. In den Emiraten steht man zwischen den Welten, zwischen dem Westen, aus dem die Touristenströme kommen, und Nachbarländern wie Saudi Arabien, die wesentlich restriktiver sind, auch was Kultur und Zensur betrifft.
Bei der konzertanten Aufführung der Walküre im prunkvollen Emirates Palace hat man sich entschieden, auf eine Übertitelung zu verzichten, die Wagners Libretto über Inzest, Ehebruch und einen in Verträgen verstrickten Herrscher detailreich übersetzt hätte. Stattdessen zeigte man einen unproblematischen, ästhetisch altbackenen Film, in dem die grobe Handlung umrissen wird. Ein Beispiel, das zeigt: Zensur, wie wir sie kennen, wird anderenorts (gerade in Ländern, deren Geschichte nur etwas älter als 40 Jahre ist) anders definiert.
Die Macht in der Kulturlandschaft
Auch in Deutschland tobt derzeit ein Streit um die Bedeutung des Wortes Zensur. Parteien wie die AfD palavern von einer kulturellen Meinungsdiktatur in unserem Land, von einer links-ideologisch gesteuerten Kulturszene. „Man wird doch wohl mal sagen dürfen…“ ist längst nicht mehr ein Satz an Stammtischen, sondern eine Floskel im kulturellen Diskurs der Neuen Rechten. Für sie ist das deutsche Bühnen- und Orchesterleben wahlweise „einseitig“, „links-versifft“ oder zu „antinational“.
Man kann diesen Standpunkt (und möchte es am liebsten auch) einfach als Quatsch vom Tisch wischen. Aber wenn es ernsthaft darum geht, nach der Freiheit der Kunst und der Kultur in Deutschland zu fragen, muss man derartige Vorwürfe, wohl oder übel, zunächst einmal anhören.
Bevor wir uns um Antworten kümmern, ist es vielleicht hilfreich, das Thema der Zensur zunächst ein wenig einzukochen. Etwa auf die Frage: Wer hat eigentlich die Macht in unserer Kulturlandschaft? Die neue Rechte tut gern so, als seien unsere kulturellen Institutionen politisch so besetzt, dass die Rechte und das Nationale keinen Platz hätten. Noch entscheidender aber scheint die Frage, ob die Strukturen unserer Kulturlandschaft ihre Vielfalt – in welche Richtung auch immer – sogar einschränken.
Schreiende Tyrannen
Auch für diese Frage sei ein kleiner Umweg erlaubt: Letzten Monat haben wir eine aufgeregte Debatte um den Dirigenten Daniel Barenboim mitverfolgt. Das Van-Magazin hat ehemalige Weggefährten getroffen, die sich über den Autoritäten Führungsstil, über verbale Ausfälle und die ungerechte Behandlung von Orchestermusikern durch den Dirigenten beschwert haben. Im Feuilleton begann ein Kampf um die Deutungshoheit: Barenboim-Befürworter wie die ehemalige FAZ-Kritikerin Eleonore Büning schlugen sich auf Seiten des Dirigenten, andere hielten das Verhalten, das ihm vorgeworfen wird, für unentschuldbar und riefen nach Rücktritt.
Viel zentraler ist die Frage nach den Strukturen, die ein derartiges Verhalten, ob es nun im konkreten Fall stattgefunden hat oder nicht, zulassen. Strukturen, die wir nicht nur in der Kultur sondern auch anderenorts finden: Ich kenne mindestens zehn schreiende Chefredakteure, lese von wild gewordenen Managern und selbst in Familien gibt es fürchterliche Tyrannen, die schalten und walten können wie sie wollen, weil andere Familienmitglieder pure Angst haben.
Anfällig für fragwürdiges menschliches Verhalten
Aber warum kann sich ein Orchester aus oft über 80 erwachsenen Menschen nicht gegen Ausfälle eines Dirigenten wehren? Warum schreiten Kulturpolitiker nicht ein? Es ist auffällig, dass das Öffentlichwerden von Fehlverhalten in der Regel nur Künstler trifft, die den Zenit ihrer Karriere bereits überschritten haben, deren Machtkosmos so weit geschrumpft ist, dass Opfer keine Repressalien mehr fürchten müssen, oder – noch schlimmer! –, dass Opfer erst am Ende ihrer eigenen Karriere den Mut finden, Missstände zu benennen, da sie sich im aktiven Kulturleben alleingelassen fühlten.
Fakt ist, dass gerade die Kulturlandschaft für fragwürdiges menschliches Verhalten anfällig zu sein scheint, das sich frei und ohne Konsequenzen entfalten kann. Egal, ob Dirigent oder Intendant, Star-Schauspieler oder Opern-Diva: Es sollte nicht möglich sein – schon gar nicht an staatlich subventionieren Einrichtungen–, dass wenige Despoten die Mehrheit der Künstler tyrannisieren können.
Moralische Zugeständnisse
Erfolgreiche Intendanten oder Dirigenten wirken über ihre jeweiligen Städte hinaus, sind für die lokale Politik oft Aushängeschilder. Sie verfügen über Netzwerke, mit denen sie den Karrieren Einzelner, aber auch ganzen Institutionen nachhaltig schaden können. Gleichzeitig umgibt die Politik sich gern mit Erfolgsmenschen. Sich von einem internationalen Klassik-Star zu trennen oder ihn zu Maßregeln scheint der Kulturpolitik inzwischen mindestens so schwer zu sein, wie es dem FC Bayern fällt, Franc Ribéry zur Rechenschaft zu ziehen, wenn er Fußballfans kollektiv beleidigt.
Dabei verfügen Kollektive wie ein Orchester qua Masse über Macht (die sie auch mit jeder Probezeit-Vereinbarung ausspielen). Um so interessanter, wie innerhalb der Orchester zuweilen über die Verlängerung eines Dirigenten-Vertrages debattiert wird: „Er ist zwar ein Idiot, aber er ist leider auch einer der besten Dirigenten.“ Oder: „Wenn wir den gehen lassen, müssen wir wieder von vorne anfangen – und so schlimm sind seine Wutausbrüche auch nicht.“ Oder: „Für eine Mahler-Symphonie mit ihm lasse ich mich auch gern beschimpfen.“ Ich habe viele dieser Entscheidungsfindungen miterlebt, und es ist schockierend, zu welchen moralischen Zugeständnissen manche Ensembles fähig sind, um einen Dirigenten zu halten, den sie eigentlich nicht ausstehen können. So ähnlich argumentiert ja auch Eleonore Büning in der Causa Barenboim: Für sie ist er „eines der letzten Genies“ – und ein Genie darf das eben! Das war immer so, und das wird auch immer so bleiben. Basta.
Die Entwicklung der Menschlichkeit und der Mitmenschlichkeit
Genau diese Argumentation ist verstörend – und vielleicht Anfang des strukturellen Übels. Was hat all das nun mit der Frage nach Zensur zu tun? Vielleicht dieses: Wen wir über Macht – und Zensur ist nichts anderes als Ausdruck von Macht – reden, argumentieren wir – ohne es zu merken – ähnlich wie Abu Dhabi. Wir berufen uns auf eine kulturelle Tradition, die ungefähr lautet: „Genies dürfen alles, und der künstlerische Erfolg steht über allen menschlichen Kategorien.“
Damit beschneiden wir uns selber eines modernen und aufgeklärten Selbstverständnisses, um das es in der Musik – von Bach bis Beethoven – eigentlich geht, um die Entwicklung der Menschlichkeit und der Mitmenschlichkeit. Nein, es ist nicht okay, dass wir ein System bestätigen, in dem viele Menschen nicht den Mut haben, Missstände anzuklagen, in dem Zensur unter anderem darin besteht, dass Übergriffe, tyrannisches und egoistisches Verhalten tabuisiert werden. Und dass wir all dem dann auch noch den Namen „Kulturlandschaft“ geben.
Das eigene System auf den Prüfstand
Mit den inhaltlichen Zensur-Vorwürfen wie sie von der Neuen Rechten kommen, hat all das vielleicht wenig zu tun. Ich bin auch sicher, dass man in Deutschland so ziemlich alles sagen darf, was man sagen will, solange es sich an der Kategorie der Menschenwürde orientiert. Dass es irgendwo immer einen Ort für das Rechte und das Linke, das Gemäßigte und das Demokratische gibt. Und dennoch: Ein System, dem es nicht einmal gelingt, Strukturen zu schaffen, durch die ein grundsätzlich menschlicher Umgang miteinander garantiert ist, macht sich natürlich auch inhaltlich angreifbar.
Wo Wutausbrüche, Beleidigungen und Beschimpfungen tabuisiert werden, hat man kein gutes Gefühl, wenn es um inhaltliche Macht geht. Wer das Menschsein zensiert, ist auch in der Lage, die Kunst zu zensieren. Und deshalb ist es eine dringende Aufgabe der deutschen Kulturpolitik, das eigenes System, die Möglichkeiten des Einzelnen, sich gegen Übergriffe anderer zur Wehr zu setzen, auf den Prüfstand zu stellen. Vorwürfe von Machtmissbrauch mit dem Verweis auf romantischen Geniekult abzutun, ist fahrlässig! Nur eine Kultur, die die Kultur des Mitmenschlichen pflegt, kann auch als Kultur, die das Mitmenschliche propagiert, glaubwürdig bleiben – und frei.