Thomas Albertus Irnberger
Ein Diener der Musik
von Stefan Sell
12. Januar 2024
Als 15-Jähriger überraschte er die Klassikwelt mit seinem Debüt: Der österreichische Geiger Thomas Albertus Irnberger traute sich an Tschaikowskis Violinkonzert. Nun, mit nur 39 Jahren, hat er bereits 65 Alben veröffentlicht.
Irnberger ist ein ausgesprochen kundiger Verehrer der Renaissance, verleiht Altem neues Licht, lässt mit Erkenntnissen der heutigen Welt die Wirklichkeit der vergangen wieder erscheinen und weiß den Widerhall auf das Jetzige anzuwenden. Im Dialog zwischen Werk und Entstehung werden seine Interpretationen lebendig – virtuos, vielschichtig, unverwechselbar. Ein tiefes Verständnis dessen, was er spielt, und eine unerschütterliche Unabhängigkeit sind die Prämissen seines Tuns. Letztlich trägt alles seine persönliche Note. Irnberger vermag das Eine im Vielen zu sehen. Sein Können wurde ihm viele Male bescheinigt, ein sicheres Stilgefühl allemal.
Herr Irnberger, man könnte fast sagen: 100 Jahre Gramola, und die meisten Alben haben Sie eingespielt?
Ja (zögert kurz), ja, das kann man tatsächlich so sagen. Es erscheint jetzt bald das 65. Album, drei weitere sind in Planung, unter anderem mein Sibelius-Album und eine Bruch-Einspielung mit dem Royal Philharmonic Orchestra, eine mit Haydns Violinkonzerten und dem Doppelkonzert für Violine und Hammerklavier erscheint im Dezember.
Hört man beispielsweise das bekannte, viel gespielte Andante aus Schuberts Piano-Trio Nr. 2, D929 mit Ihnen, fragt man sich: Woher nehmen Sie Ruhe und Gelassenheit bei Ihrem äußerst regen Tun, in diesem einen Moment alles beiseitezuschieben und einfach präsent zu sein?
Das ist das Resultat einer sehr konsequenten Vorbereitung, weil mir schon als Teenager klar war: Als Interpret muss man immer ein Diener der Musik sein. Um rüberzubringen, was der Komponist gemeint hat, ist ein gewisses Hintergrundwissen unerlässlich. Es dauert viele Jahre bis man in der Lage ist, einen gewissen Moment, eine gewisse Empfindung zu transportieren.
Was vermutlich eine sehr komplexe Herangehensweise bedeutet?
Malerei, Literatur, Musik – das ist etwas, was nicht ohne einander funktioniert und gleichzeitig einander befruchtet. Die ganz großen Komponisten hatten immer auch mit den Schriftstellern und Malern ihrer Zeit engen Kontakt, da war stets ein Austausch. Ich nutze alle Möglichkeiten, die wir heute haben, um so viel wie möglich über das Stück, den Komponisten und seine persönlichen Lebensumstände während der Entstehung zu erfahren.
Haben Sie ein Beispiel, wie man sich das vorzustellen hat?
Ja, die e‑Moll-Sonate KV 304 hat Mozart in der Zeit geschrieben, als seine Mutter gestorben ist. Dazu gibt es ein berühmtes Interview von Nikolaus Harnoncourt, worin er behauptet, es sei Mozart egal gewesen, in welcher Stimmungslage er sich befunden hätte. Wenn er tieftraurig war, konnte er fröhliche Musik schreiben – und umgekehrt. Diese Meinung teile ich nicht. Die e‑Moll-Sonate hat ein Alleinstellungsmerkmal, Mozart hat kein vergleichbares Werk mehr in e‑Moll geschrieben. Das Menuett hat einen wehmütigen Charakter und ist für mich eine Art Requiem. Diese Sonate ist einmalig. Ich glaube, unter anderen Umständen hätte er nie so ein Stück geschrieben.
Ein für Sie ganz wichtiger Lehrer war Ivry Gitlis, der durchaus auch mal mit Yoko Ono und John Lennon auftrat?
Ivry Gitlis war in dieser Hinsicht ein Phänomen. Er hat für damalige Zeiten etwas Revolutionäres gemacht: Er hat über den Tellerrand geschaut. Er hat mit jedem gespielt, der besonderes Talent hatte. Egal, wo jemand herkommt, egal, was er für einen kulturellen Background hat – Musik ist Verständigung. Das hat er in geradezu mustergültiger Weise betrieben und dabei sehr interessante künstlerische Resultate erzielt. Ich kenne natürlich die Aufnahmen mit Yoko Ono und John Lennon und weiß, dass er damit eigentlich gar nicht so glücklich war, weil Yoko Ono diese kreischenden Geräusche produziert hat und dadurch sein Spiel in den Hintergrund gelangt ist. Gitlis wollte ursprünglich mit Lennon improvisieren, doch sie hat ihm das ruiniert – eine schlimme Erfahrung. Er hätte für seine Violine auf eine Verstärkung bestehen müssen, dann wäre er natürlich besser zur Geltung gekommen. Das wusste man damals als klassischer Künstler nicht. Man spielt ja auch im Großen Saal vor 7000 Leuten ohne Lautsprecher. Doch bei dieser Art Musik ist eine Verstärkung zwingend, das hat er nicht gewusst, und ich habe diese Geschichte sehr oft von ihm gehört. Auf der anderen Seite gibt es wunderbare Improvisationen mit Leo Ferré, der ein Freund von ihm war. Mir persönlich gefällt besonders eine Aufnahme zusammen mit Stéphane Grappelli. Gitlis war jemand, der sehr inspirierte und nie das improvisierende Element vergaß. Er war ein unglaublich offener Musiker. Gitlis war immer ein Idol für mich. Schon mit zwölf Jahren habe ich das erste Mal eine Aufnahme von ihm gehört, die mich gleich begeistert hat. Er klang so ganz anders als alle anderen. Man hat ihn gleich an seinem Spiel erkannt.
Will man Ihrem Geheimnis auf die Spur kommen, ist es diese Offenheit, von der Sie gerade sprechen, oder?
Genau. Schubladendenken und Engstirnigkeit sind meiner Meinung nach der Tod der Musik. Man hat wiederholt gesehen, dass Musik abgelehnt wird, mal aus politischen, mal aus religiösen oder ethnologischen Gründen. Das ist etwas, was Musik behindert und gleichzeitig auch den Austausch unter Musikern unmöglich macht. Das lehne ich kategorisch ab.
Der eigene Ton zählt meiner Meinung nach zum Wesentlichsten überhaupt. Es gibt eine legendäre ungarisch-israelische Geigenlehrerin, Ilona Fehér, die berühmte Geiger wie Shlomo Mintz und Pinchas Zukerman ausgebildet hat. Sie wurde einmal gefragt, was das Wichtigste für einen Geiger sei? Sie hat geantwortet: „Ein schöner Ton!” Das „schön” hat sie nicht näher definiert, aber damit einen Ton gemeint, der einen Wiedererkennungswert hat – und alle ihre Schüler haben diesen Wiedererkennungswert. Es gibt eine Übung von Ivry Gitlis, die er bei Meisterkursen empfohlen hat. Sie betrifft die Frage, wie man eigentlich zu einem persönlichen Klang komme. Gitlis erzählte, dass sein Studienkollege Josef Hassid sich an eine Wand stellte, die Augen schloss und sich, bevor er spielte, mit seinem inneren Ohr vorstellte, wie der Ton klingen müsse. Erst, wenn er sich sicher war, dass er diesen Ton erzeugen könne, begann er zu spielen. So etwas schärft das eigene Bewusstsein.
Sie haben einen Exklusivvertrag mit Gramola – heißt, Sie können Ihre Repertoireauswahl selbst bestimmen, Sie können entscheiden, was Sie als Nächstes einspielen wollen?
Ja, ich habe zumindest ein entsprechendes Mitspracherecht. 2003 war ich auf Label-Suche und in Verhandlungen mit Sony. Damit hätte ich die Möglichkeit gehabt, zu einem Major-Label zu gehen. Mir wurde angeboten, jedes Jahr ein Album zu machen, auf acht Jahre im Voraus genau definiert, was man aufnimmt. Die Idee hat mir nicht gefallen. Zum einen hängt das, was man machen möchte, von der eigenen Entwicklung ab, zum anderen hat man zu einem Stück mehr, zum anderen weniger Zugang. Ich war damals Anfang 20 und habe natürlich überlegt, was das Beste für mich ist. Im Zuge dessen habe ich Richard Winter von Gramola kennengelernt. Der hat mir einen Vertrag angeboten, der besagte, ich könne alles machen, was ich möchte. Dafür habe ich mich entschieden. Das war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte. Ich kann hier Literatur aufnehmen, die bei einem rein kommerziell ausgerichteten Major-Label gar nicht möglich ist, zum Beispiel ein Album mit Violinmusik von Liszt, das Hans-Gál-Violinkonzert oder die Musik von Iván Eröd. Das sind spezielle Programme, die einen starken Zusammenhang haben. Da hat mir Gramola den künstlerischenWeg geebnet. Dafür bin ich heute sehr dankbar, denn sonst wäre meine Diskografie nicht so reichhaltig.