Achim Freyer
In jedem Stück die ganze Welt!
14. September 2021
Achim Freyer ist einzigartig! Mit seinen grenzensprengenden und genreübergreifenden Gesamtkunstwerken hat er neue Maßstäbe auf der Bühne gesetzt.
Achim Freyer inszeniert weltweit, setzt von Claudio Monteverdi bis Philip Glass das gesamte westliche Opernspektrum in Szene und hat etliche Jahrzehnte Theatergeschichte mitgeschrieben. Als Maler, Bühnenbildner und Regisseur, spürt er in seinen Werken dem Menschsein in der Welt nach.
CRESCENDO: Herr Freyer, Ihre Theaterkarriere begann auf der Straße – dort haben Sie als Kind Puppentheater gespielt. Was hat Sie daran fasziniert?
ACHIM FREYER: Wir haben uns schon früh selbst ausgedachte Geschichten erzählt. Und als ich fünf oder sechs Jahre alt war, gab es diese kleinen Plaketten mit Köpfen darauf, vielleicht zwei Fingernägel groß. Ich habe meinen Vater gebeten, dass er Stäbe daran anbringt, meine Mutter hat ein Kostüm genäht, ich habe eine Decke über den Gartenzaun geworfen und Stabtheater gespielt. Dieses Erzählen und Formulieren wollen und müssen ist mir ein Leben lang geblieben. Ob das nun in der Malerei Form findet oder im Theater, in dem man über die Ängste und Freuden oder über die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse und bestimmte archetypische, immer wieder kehrenden Phänomene spricht: Es ist lebensnotwendig für mich.
15 Jahre nach dem Gartenzaun-Theater wurden Sie Meisterschüler bei Bertolt Brecht. Wie kam es dazu?
Als ich mein erstes Theaterstück am Deutschen Theater sah, war das zwar sehr witzig, von berühmten Schauspielern gespielt und wohl auch sehr innovativ, aber mir waren dieses Pathos und diese Künstlichkeit der Sprache und Darstellung sehr fremd. Dann war ich das erste Mal im Berliner Ensemble und sah Ekkehard Schall, der mit so einer tonlosen Stimme sprach, und dachte mir: Sowas geht auf der Bühne also auch – man muss nicht immer irgendeine Arie singen, um etwas zu sagen. Das hat mich angezogen. Also bin ich zu Brecht gegangen und bot ihm an, für ihn Plakate zu machen. Er hat sich die Sachen angesehen und sagte: Plakate können Sie ja schon, wollen Sie nicht Bühnenbild bei uns machen? Das hat mich natürlich wahnsinnig gereizt.
Was hat Brecht Ihnen mitgegeben?
Was ich gelernt habe, ist das Nachdenken über scheinbar selbstverständliche Dinge auf der Bühne. Es gibt ja diese räumliche Grenze, wo die Rampe zur Bühne anfängt. Ab dort spielt eine andere Zeit als im Zuschauerraum, obwohl in den Köpfen der Zuschauer letztlich die gleiche Zeit spielt wie auf der Bühne. Die Bühne muss also zum Zuschauer hin offen sein, damit dieser mitdenken kann und mitarbeiten. Brecht hat über vieles nachgedacht, was niemand beachtet hat. Jeder kleine Gegenstand wurde hinterfragt. Mit den wenigsten Mitteln kann man die größten Welten darstellen. Für mich, als jemand, der Gebrauchsgrafik studiert hatte und dann bei Brecht jeden Tag diese Auseinandersetzungen erlebt hat, war das eine begeisterte Bejahung meiner Verführung hin zum Theater.
Also war Ihr Weg vom Kunststudenten zum Bühnenbildner und zum Regisseur nicht geplant…
Nein, aber er hat sich irgendwann zwingend ergeben. Eigentlich war ich von Beginn an Regisseur. Als Bühnen- und Kostümbildner habe ich die Figuren entwickelt und hatte genaue Vorstellungen davon, wo sie auftreten, wie die Szene sein wird und so weiter. Die Regisseure hatten es nicht leicht mit mir, und irgendwann fasste ich den Entschluss, dass ich es selbst mache – einfach, weil es so schneller geht.
Was steht am Beginn, wenn Sie eine Inszenierung erarbeiten?
Das ist unterschiedlich. Wenn ich zum Beispiel die Musik einer Oper höre oder einen Text lese, bin ich in einem bestimmten Zustand. Dieser ist ja erstmal nur in mir und dann geht es darum, einen Körper zu schaffen, in dem dieser Zustand für alle sichtbar und hörbar und fühlbar ist.
Sie haben etliche Stücke mehrfach inszeniert. Was hat Sie daran gereizt?
Nehmen Sie zum Beispiel Die Zauberflöte – das ist ein so geniales Werk mit so vielen Facetten, die kann man nie in nur einer Inszenierung darstellen. Es ändert sich ja auch ständig das eigene Verhältnis zum Stück, und alles, was man gerade erfährt in der Welt, politisch und privat, fließt ein in eine Inszenierung. Wenn man sich mit einem Stück beschäftigt, sieht man auf einmal die ganze Welt in diesem Stück, ganz im Sinne von Picasso: Man sucht nicht, man findet.
Wann haben Sie das Gefühl, dass ein Kunstwerk oder eine Inszenierung bereit ist für die Öffentlichkeit?
Das ist ein ständiges Schwanken. Meist ist man abends überglücklich und morgens schon wieder enttäuscht oder umgekehrt. Das ist ein Prozess, den man sehr genau beobachten muss. Und dann kommt irgendwann der Moment, in dem man nichts mehr daran machen möchte. Dann ist es so weit.
Was dann schließlich auf der Bühne passiert – ist das eine eigene Wirklichkeit?
In dem Moment, da wir auf der Bühne arbeiten und etwas erzählen, geschieht eine Verwandlung – dann ist dieser kleine Kasten, in den wir gucken, kein dreidimensionaler Realraum mehr, sondern kann eine ganze Welt sein – mal der Weltraum, mal das kleinste Zimmer. Darum geht es. Wir müssen uns kleine Entwürfe und Modelle der Welt machen, um zu begreifen, was sie ist.
Sie blicken auf viele Jahrzehnte Bühnenarbeit zurück. Was hat sich verändert?
Eine Veränderung, die mir etwas enttäuschend erscheint, ist, dass alle Stücke so gebürstet werden, als ob sie heute spielen. Dabei ist der historische Moment ja ein schöpferischer, um sich das Heute zu erschaffen. Ich finde, Tradition ist ein Fundament für die Moderne. Wenn man modern sein will, indem man nur versucht, den Alltag abzubilden, macht man den Zuschauer zum Voyeur. Er kann dann nicht mehr mitdichten, weil alles schon da ist und er findet nichts mehr, zu dem er eine Beziehung herstellen muss. Dann kann er sich genauso gut vor den Fernseher setzen. Auch die Tendenz, den Text zu ändern, halte ich für sehr gefährlich. Die Sprache hat natürlich manchmal eine altmodische Form. Aber aus einem anderen Jahrhundert heraus unser Jahrhundert zu erkennen, das ist ein faszinierender Verfremdungseffekt ganz im Sinne von Brecht. In dem Moment, in dem man sagen kann: Das ist ja wie bei uns, haben die Erkenntnisprozesse begonnen, und man kann als Zuschauer mitarbeiten.
Der Zuschauer soll mitarbeiten?
Ja, auf jeden Fall – das ist ein Dialog. Der Zuschauer schöpft mit und bezieht Stellung. Die Bühne deutet Dinge ja nur mit bestimmten Zeichen an. Lesen muss diese der Zuschauer, und das ist der schöpferische Prozess. Jeder bringt seine individuelle Erfahrung mit ein und erfindet seine Welt. Gleichzeitig sitzen alle nebeneinander, alle Köpfe rattern und alle Herzen klopfen. Das ist das Aufregende des Zuschauerraums.
Sie arbeiten bis heute. Haben Sie jemals daran gedacht, sich zur Ruhe zu setzen?
Ich habe Gerhard Richter beneidet, dass er gesagt hat, er höre auf zu malen, weil er zu alt sei. Ich kann das nicht. Ich muss jeden Tag malen. Die Malerei war auch schon immer da. Meine Mutter hat immer gesagt: Junge, geh doch raus spielen, sitz nicht so krumm, aber ich habe immer gemalt – jeden Tag.
Haben Sie bei Ihrer Kunst eine Mission?
Was ich liebe, das möchte ich zeigen. Das ist der Grund.
Achim Freyers Ausstellung Mit eigenem Blick im Kunsthaus der Achim Freyer Stiftung in Berlin ist wieder geöffnet und bis 14. November 2021 zu sehen. Weitere Informationen unter: www.achimfreyer.com
Weitere Informationen über Achim Freyer und seine Stiftung unter: www.achimfreyer.com