Achim Freyer

In jedem Stück die ganze Welt!

von Dorothea Walchshäusl

14. September 2021

Achim Freyer ist einzigartig! Mit seinen grenzensprengenden und genreübergreifenden Gesamtkunstwerken hat er neue Maßstäbe auf der Bühne gesetzt.

insze­niert welt­weit, setzt von bis das gesamte west­liche Opern­spek­trum in Szene und hat etliche Jahr­zehnte Thea­ter­ge­schichte mitge­schrieben. Als Maler, Bühnen­bildner und Regis­seur, spürt er in seinen Werken dem Mensch­sein in der Welt nach.

CRESCENDO: Herr Freyer, Ihre Thea­ter­kar­riere begann auf der Straße – dort haben Sie als Kind Puppen­theater gespielt. Was hat Sie daran faszi­niert?

ACHIM FREYER: Wir haben uns schon früh selbst ausge­dachte Geschichten erzählt. Und als ich fünf oder sechs Jahre alt war, gab es diese kleinen Plaketten mit Köpfen darauf, viel­leicht zwei Finger­nägel groß. Ich habe meinen Vater gebeten, dass er Stäbe daran anbringt, meine Mutter hat ein Kostüm genäht, ich habe eine Decke über den Garten­zaun geworfen und Stab­theater gespielt. Dieses Erzählen und Formu­lieren wollen und müssen ist mir ein Leben lang geblieben. Ob das nun in der Malerei Form findet oder im Theater, in dem man über die Ängste und Freuden oder über die poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Ereig­nisse und bestimmte arche­ty­pi­sche, immer wieder kehrenden Phäno­mene spricht: Es ist lebens­not­wendig für mich.

Einblicke in Achim Freyers Insze­nie­rung von George Enescus Oper Oedipe, die 2019 bei den Salz­burger Fest­spielen zu sehen war

15 Jahre nach dem Garten­zaun-Theater wurden Sie Meis­ter­schüler bei Bertolt Brecht. Wie kam es dazu?

Als ich mein erstes Thea­ter­stück am Deut­schen Theater sah, war das zwar sehr witzig, von berühmten Schau­spie­lern gespielt und wohl auch sehr inno­vativ, aber mir waren dieses Pathos und diese Künst­lich­keit der Sprache und Darstel­lung sehr fremd. Dann war ich Mal im Berliner Ensemble und sah Ekke­hard Schall, der mit so einer tonlosen Stimme sprach, und dachte mir: Sowas geht auf der Bühne also auch – man muss nicht immer irgend­eine Arie singen, um etwas zu sagen. Das hat mich ange­zogen. Also bin ich zu Brecht gegangen und bot ihm an, für ihn Plakate zu machen. Er hat sich die Sachen ange­sehen und sagte: Plakate können Sie ja schon, wollen Sie nicht Bühnen­bild bei uns machen? Das hat mich natür­lich wahn­sinnig gereizt.

Was hat Brecht Ihnen mitge­geben?

Was ich gelernt habe, ist das Nach­denken über scheinbar selbst­ver­ständ­liche Dinge auf der Bühne. Es gibt ja diese räum­liche Grenze, wo die Rampe zur Bühne anfängt. Ab dort spielt eine andere Zeit als im Zuschau­er­raum, obwohl in den Köpfen der Zuschauer letzt­lich die gleiche Zeit spielt wie auf der Bühne. Die Bühne muss also zum Zuschauer hin offen sein, damit dieser mitdenken kann und mitar­beiten. Brecht hat über vieles nach­ge­dacht, was niemand beachtet hat. Jeder kleine Gegen­stand wurde hinter­fragt. Mit den wenigsten Mitteln kann man die größten Welten darstellen. Für mich, als jemand, der Gebrauchs­grafik studiert hatte und dann bei Brecht jeden Tag diese Ausein­an­der­set­zungen erlebt hat, war das eine begeis­terte Beja­hung meiner Verfüh­rung hin zum Theater.

Also war Ihr Weg vom Kunst­stu­denten zum Bühnen­bildner und zum Regis­seur nicht geplant…

Nein, aber er hat sich irgend­wann zwin­gend ergeben. Eigent­lich war ich von Beginn an Regis­seur. Als Bühnen- und Kostüm­bildner habe ich die Figuren entwi­ckelt und hatte genaue Vorstel­lungen davon, wo sie auftreten, wie die Szene sein wird und so weiter. Die Regis­seure hatten es nicht leicht mit mir, und irgend­wann fasste ich den Entschluss, dass ich es selbst mache – einfach, weil es so schneller geht.

Achim Freyer, Zauberflöte
Farben­prächtig und fanta­sie­voll: 2008 insze­nierte Achim Freyer am Theater an der Mozarts Zauber­flöte
(Foto: © Armin Bardel / Theater an der Wien)

Was steht am Beginn, wenn Sie eine Insze­nie­rung erar­beiten?

Das ist unter­schied­lich. Wenn ich zum Beispiel die Musik einer Oper höre oder einen Text lese, bin ich in einem bestimmten Zustand. Dieser ist ja erstmal nur in mir und dann geht es darum, einen Körper zu schaffen, in dem dieser Zustand für alle sichtbar und hörbar und fühlbar ist.

Sie haben etliche Stücke mehr­fach insze­niert. Was hat Sie daran gereizt?

Nehmen Sie zum Beispiel Die Zauber­flöte – das ist ein so geniales Werk mit so vielen Facetten, die kann man nie in nur einer Insze­nie­rung darstellen. Es ändert sich ja auch ständig das eigene Verhältnis zum Stück, und alles, was man gerade erfährt in der Welt, poli­tisch und privat, fließt ein in eine Insze­nie­rung. Wenn man sich mit einem Stück beschäf­tigt, sieht man auf einmal die ganze Welt in diesem Stück, ganz im Sinne von Picasso: Man sucht nicht, man findet.

Achim Freyer, Don Giovanni
Mozarts Don Giovanni in der Insze­nie­rung von Achim Freyer: 2015 an der Wiener Volks­oper
(Foto: © Barbara Pálffy / Volks­oper) 

Wann haben Sie das Gefühl, dass ein Kunst­werk oder eine Insze­nie­rung bereit ist für die Öffent­lich­keit?

Das ist ein stän­diges Schwanken. Meist ist man abends über­glück­lich und morgens schon wieder enttäuscht oder umge­kehrt. Das ist ein Prozess, den man sehr genau beob­achten muss. Und dann kommt irgend­wann der Moment, in dem man nichts mehr daran machen möchte. Dann ist es so weit.

Was dann schließ­lich auf der Bühne passiert – ist das eine eigene Wirk­lich­keit?

In dem Moment, da wir auf der Bühne arbeiten und etwas erzählen, geschieht eine Verwand­lung – dann ist dieser kleine Kasten, in den wir gucken, kein drei­di­men­sio­naler Real­raum mehr, sondern kann eine ganze Welt sein – mal der Welt­raum, mal das kleinste Zimmer. Darum geht es. Wir müssen uns kleine Entwürfe und Modelle der Welt machen, um zu begreifen, was sie ist.

Achim Freyer, Hänsel und Gretel
2017 setzte Achim Freyer mit und Katrin Wundsam an der Staats­oper Unter den Linden in Engel­bert Humper­dincks Hänsel und Gretel in Szene.
(Foto: © Monika Ritters­haus / )

Sie blicken auf viele Jahr­zehnte Bühnen­ar­beit zurück. Was hat sich verän­dert?

Eine Verän­de­rung, die mir etwas enttäu­schend erscheint, ist, dass alle Stücke so gebürstet werden, als ob sie heute spielen. Dabei ist der histo­ri­sche Moment ja ein schöp­fe­ri­scher, um sich das Heute zu erschaffen. Ich finde, Tradi­tion ist ein Funda­ment für die Moderne. Wenn man modern sein will, indem man nur versucht, den Alltag abzu­bilden, macht man den Zuschauer zum Voyeur. Er kann dann nicht mehr mitdichten, weil alles schon da ist und er findet nichts mehr, zu dem er eine Bezie­hung herstellen muss. Dann kann er sich genauso gut vor den Fern­seher setzen. Auch die Tendenz, den Text zu ändern, halte ich für sehr gefähr­lich. Die Sprache hat natür­lich manchmal eine altmo­di­sche Form. Aber aus einem anderen Jahr­hun­dert heraus unser Jahr­hun­dert zu erkennen, das ist ein faszi­nie­render Verfrem­dungs­ef­fekt ganz im Sinne von Brecht. In dem Moment, in dem man sagen kann: Das ist ja wie bei uns, haben die Erkennt­nis­pro­zesse begonnen, und man kann als Zuschauer mitar­beiten.

Der Zuschauer soll mitar­beiten?

Ja, auf jeden Fall – das ist ein Dialog. Der Zuschauer schöpft mit und bezieht Stel­lung. Die Bühne deutet Dinge ja nur mit bestimmten Zeichen an. Lesen muss diese der Zuschauer, und das ist der schöp­fe­ri­sche Prozess. Jeder bringt seine indi­vi­du­elle Erfah­rung mit ein und erfindet seine Welt. Gleich­zeitig sitzen alle neben­ein­ander, alle Köpfe rattern und alle Herzen klopfen. Das ist das Aufre­gende des Zuschau­er­raums.

Die Ausstel­lung Zwischen Landung von Achm Freyer in der Münchner Praxis des Ortho­päden und Sport­me­di­zi­ners Hans-Wilhelm Müller-Wohl­fahrt, der in der Kunst einen Weg zur Selbst­hei­lung sieht

Sie arbeiten bis heute. Haben Sie jemals daran gedacht, sich zur Ruhe zu setzen?

Ich habe Gerhard Richter beneidet, dass er gesagt hat, er höre auf zu malen, weil er zu alt sei. Ich kann das nicht. Ich muss jeden Tag malen. Die Malerei war auch schon immer da. Meine Mutter hat immer gesagt: Junge, geh doch raus spielen, sitz nicht so krumm, aber ich habe immer gemalt – jeden Tag.

Haben Sie bei Ihrer Kunst eine Mission?

Was ich liebe, das möchte ich zeigen. Das ist der Grund.

Achim Freyer

Achim Freyers Ausstel­lung Mit eigenem Blick im Kunst­haus der Achim Freyer Stif­tung in Berlin ist wieder geöffnet und bis 14. November 2021 zu sehen. Weitere Infor­ma­tionen unter: www​.achim​freyer​.com

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Weitere Informationen über Achim Freyer und seine Stiftung unter: www.achimfreyer.com

Fotos: Anne Zeuner, Salzburger Festspiele