Alexander Bernstein

Mein Vater gehörte der ganzen Welt

von Verena Fischer-Zernin

13. September 2018

Im August hätte Leonard Bernstein seinen 100. Geburtstag gefeiert. Wir sprachen exklusiv mit dem Sohn des legendären Dirigenten, Alexander Bernstein.

Im August hätte Leonard Bern­stein seinen 100. Geburtstag gefeiert. Wir spra­chen exklusiv mit dem Sohn des legen­dären Diri­genten, Pianisten und Kompo­nisten, Alex­ander Bern­stein.

CRESCENDO: Sie sind der Sohn von Leonard Bern­stein. Was war der Sound­track Ihrer Kind­heit?

: Meine Kind­heit war voll von seiner Musik. Mein Vater spielte uns oft das, was er gerade geschrieben hatte, vor. Es war sehr aufre­gend, die Kompo­si­tionen zum ersten Mal zu hören. Und wir hatten oft spät nachts Partys, ­bei denen viel gesungen wurde. Ich erin­nere mich an wunder­bare, unglaub­lich komi­sche Lieder. Manchmal spielte mein Vater auch vier­händig mit jemandem, Mozart und andere. Es war sehr viel Musik um uns. Ande­rer­seits mochte er es über­haupt nicht, wenn Musik im Hinter­grund lief. Wenn meine Schwes­tern und ich bei den Haus­auf­gaben Radio hörten, fand er das komplett unver­ständ­lich.

Ihre Eltern hatten so viele berühmte Freunde. Sind Jackie Kennedy, Mstislaw Rostro­po­witsch oder Aaron Copland manchmal in Ihr Zimmer gekommen und haben Ihnen eine Gute­nacht­ge­schichte vorge­lesen?

Das wäre schön gewesen! Sie kamen zu uns, aber …

… nicht bis in Ihr Zimmer! Wo war das eigent­lich?

Mitten in . In meinen ersten Lebens­jahren wohnten wir in der Nähe der Carnegie Hall. Mein Vater hatte also einen sehr kurzen Weg zur Arbeit. Später zogen wir in eine sehr schicke Wohnung in der Park Avenue – mit zwei Etagen und einer Terrasse und einem groß­ar­tigen Blick über die Stadt. Dort habe ich die längste Zeit meiner Jugend verbracht.

Nina Bern­stein Simmons, Alex­ander Bern­stein und Jamie Bern­stein ©Steve J. Sherman

Als Sie geboren wurden, war Ihr Vater bereits ein Star. Wann wurde Ihnen bewusst, dass er eine Berühmt­heit ist?

Es gab die Fern­seh­serie „The Flintstones“, die in der Stein­zeit spielt. Da sagte eine Frau zur anderen: „Heute gehen wir zur Holly­rock Bowl. Ich kann es kaum erwarten, Leonard Bern­stone zu sehen!“ Dass mein Vater bei den „Flintstones“ vorkam, bedeu­tete, dass er wirk­lich berühmt sein musste!

Waren Sie stolz?

Sehr!

Er war eine öffent­liche Person. Hatten Sie das Gefühl, ihn teilen zu müssen? Waren Sie eifer­süchtig?

Eifer­süchtig nicht. Wir wuchsen schlichtweg in dem Bewusst­sein auf, dass er der Welt gehörte – und uns. Er war sehr fami­li­en­ori­en­tiert und verbrachte viel Zeit mit uns, nahm uns auf seine Tour­neen und Reisen mit. Es war aufre­gend und lustig, mit ihm zusammen zu sein.

Und als Sie ein Teen­ager waren – in der Zeit, wenn die Eltern pein­lich werden –, dachten Sie manchmal: „Jetzt reicht’s!“?

Oft! Ich frage mich manchmal, warum mein Vater nicht öfter in meine Schule gekommen ist. Warum hat er sich nicht mehr mit meiner Ausbil­dung ausein­an­der­ge­setzt, mit Lehrern gespro­chen, an Konfe­renzen teil­ge­nommen? Aber wenn er mal zu einer Auffüh­rung von mir gekommen ist, war es mir immer etwas pein­lich. Er stand hinter einer Säule und winkte mir zu oder tat so, als würde er auf mich schießen. Natür­lich haben ihn dauernd alle ange­starrt, denn er war ja .

„Wir wuchsen schlichtweg in dem Bewusst­sein auf, dass er der Welt gehörte – und uns. Er war sehr fami­li­en­ori­en­tiert“

Bern­steins Werk ist unglaub­lich facet­ten­reich. Die Deut­sche Gram­mo­phon feiert seinen 100. Geburtstag mit mehr als 150 Einspie­lungen. Sie zeigen seine enorme Band­breite bezüg­lich Stilen und Genres. Er hat Mahler und Beet­hoven aufge­führt und natür­lich die West Side Story geschrieben, sein wohl bekann­testes Werk. Aber es gibt auch eine ernste, tiefe, komplexe Seite seiner Musik. Gab es eine Kluft zwischen diesen Seiten?

Das glaube ich nicht. Vieles in der West Side Story kommt von seiner konzer­tanten Musik, die genauso profund ist wie seine Sinfo­nien. Umge­kehrt findet sich in seinem konzer­tanten Schaffen viel Broadway- und Jazz­musik. Er riss ständig Grenzen zwischen Stilen und Genres ein – und natür­lich zwischen Menschen, das war seine Lebens­aufgabe.

Viele seiner Werke beschäf­tigen sich mit reli­giösen Themen oder tragen reli­giöse, insbe­son­dere jüdi­sche Titel, etwa Kaddish. Wie war Bern­steins Bezie­hung zur Reli­gion?

Mein Vater war der Sohn eines Rabbis, der jede Woche strikt in die Synagoge ging. Er nahm meinen Vater mit, der dort Sprache, Gebete und Feier­tage kennen­lernte. Er kannte sich also mit dem Judentum aus. Als Erwach­sener hat er die Reli­gion nicht mehr aktiv prak­ti­ziert, aber er war ein sehr spiri­tu­eller Mann und spürte eine sehr persön­liche Verbin­dung zu Gott. Stark geprägt hat ihn die Kultur des Fragen­stel­lens, die im Judentum eine große Rolle spielt. Sie hat sein Leben als Künstler und Lehrer geprägt. Er war ein neugierig Suchender, wollte immer noch mehr wissen und dieses Wissen mit anderen teilen.

„Er war ein neugierig Suchender, wollte immer noch mehr wissen und dieses Wissen mit anderen teilen“

Und er wusste sicher eine Menge!

Das konnte ganz schön anstren­gend sein! Wenn er am Tisch saß, redete er oft sehr lange – über jedes Thema, nicht nur über Musik oder Reli­gion, sondern auch über Politik, Geschichte und anderes. Viele seiner Werke basieren auf Texten oder Thea­ter­stü­cken. Sogar seine Sinfo­nien beruhen auf Bibel­texten wie etwa Jere­miah. The Age of Anxiety beruht auf einem Gedicht von W. H. Auden, die Sere­nade – eigent­lich ein Violin­kon­zert – auf Platon. Und natür­lich sind alle Broad­way­stücke mit Text. Er liebte die Verbin­dung zwischen Sprache und Musik.

Er sagte einmal: „Ich glaube an den Menschen.“ War das sein Credo?

Absolut. Er liebte Menschen. Deshalb genoss er es, berühmt zu sein: Denn so konnte er unend­lich viele Menschen kennen­lernen. Wenn er gekonnt hätte, hätte er jeden einzeln Menschen auf der Welt kennen­ge­lernt.

Er hasste es, allein zu sein?

Das war so. Er sagte immer, dass er allein nichts genießen kann.

„Er liebte Menschen. Deshalb genoss er es, berühmt zu sein: Denn so konnte er unend­lich viele Menschen kennen­lernen“

Aber wie konnte er kompo­nieren, wenn er nicht allein sein konnte?

Das ist das große Paradox. Die Einsam­keit des Kompo­nie­rens war sehr schwer für ihn. Meis­tens kompo­nierte er spät nachts, wenn niemand mehr wach war. Da war er mit sich allein, legte sich auf ein Sofa …

… mit seinen „kleinen Soldaten“, wie er seine Blei­stifte nannte …

Ja. Und wenn er eine Idee hatte, stand er auf und ging zum Klavier. Oft merkte er gar nicht, dass es plötz­lich sieben Stunden später war und viele Manu­skript­seiten um ihn herum­lagen. Broad­way­stücke zu schreiben liebte er, denn das tat er im Team. Auch da kompo­nierte er zwar allein, aber er konnte die Musik sofort seinen Mitar­bei­tern zeigen und mit ihnen im Kontakt sein.

Er liebte es auch, Musik zu vermit­teln. Wie viele seiner legen­dären „Young People’s Concerts“ haben Sie miter­lebt?

Ich denke über 20? Es war immer ein Riesen­spaß, früh morgens dort hinzu­gehen, wenn noch niemand da war und nur die Kame­ra­teams schon aufbauten. Dann kamen allmäh­lich die Musiker zur Vorbe­spre­chung. Manchmal rannte ich dann mit meiner Schwester Jamie durchs Konzert­haus, das war wie ein Spiel­platz! Wir klet­terten zu den Beleuch­tern hinauf und guckten von oben runter, gingen hinter die Bühne zu den Musi­kern oder zum Über­tra­gungs­wagen, von dem aus die Kameras kontrol­liert wurden, und redeten mit dem Regis­seur, Roger Englander, der ein wunder­barer Mann war. Dann rannten wir zum Bespre­chungs­raum zurück, klauten Sand­wi­ches und hörten kurz zu. Bei den Proben lernten wir die Musik sehr gut kennen und waren perfekt vorbe­reitet, wenn das Konzert losging.

„Ich war eine Zeit lang Schau­spieler, bin dann aber Lehrer geworden. Das ist die Verbin­dung zu meinem Vater“

Haben Sie jemals über­legt, selbst Musiker zu werden?

Nein. Ich habe Klavier­un­ter­richt gehabt, aber ohne Erfolg. Ich war sehr faul und habe nicht geübt.

Sie sind Schau­spieler geworden.

Ich war eine Zeit lang Schau­spieler, bin dann aber Lehrer geworden. Das ist die Verbin­dung zu meinem Vater. Wir haben viel über Erzie­hung, Kunst und deren Verbin­dung gespro­chen. Beides ist schöp­fe­risch. Er hatte damals die Idee zu dem, was wir heute „Artful Lear­ning“ nennen …

… eine Methode, nach der Sie heute noch arbeiten.

Die Idee dabei ist, dass Schüler und Lehrer Verbin­dungen zwischen den Diszi­plinen herzu­stellen lernen. Daraus entwi­ckelt sich ein tieferes Verständnis vom Lern­in­halt, eine inten­sive Neugierde. Es geht nicht darum, stumpf etwas zu lernen, die Prüfung zu bestehen, das Nächste zu machen, einen Job zu bekommen, und das war’s dann. Sondern da kommt wieder die rabbi­ni­sche Tradi­tion ins Spiel: zu fragen und noch mehr zu fragen, neugierig zu sein und sich inspi­rieren zu lassen.

Welche poli­ti­sche Posi­tion würde Ihr Vater heute beziehen?

Manchmal bin ich froh, dass er nicht hier ist und das alles miter­leben muss. Er würde schreien und schimpfen, leiden­schaft­lich kompo­nieren und Kunst machen. Er würde sich noch mehr für Bildung einsetzen. Er würde weiter­kämpfen. Man muss positiv bleiben und an die Menschen glauben, wie er es tat. Und nie die Hoff­nung aufgeben.

Fotos: Bart-Molendijk / Anefo Nationaal-Archief