Alexei Ratmansky
Choreografischer Grenzgänger
von Rita Argauer
7. November 2023
Der Choreograf und Tänzer Alexei Ratmansky zählt zu den ganz Großen seines Faches. Besonders bekannt ist er auch für seine authentischen Rekonstruktionen alter Ballettinszenierungen. Dabei ist ihm eines besonderes wichtig: "lernen, wie es gemacht wird".
Alexei Ratmansky lehnt an der Stange im großen Saal des Bayerischen Staatsballetts, hoch oben über der Bühne im Nationaltheater. Damals, 2014, arbeitete er an seiner ersten eigenen Rekonstruktion eines Klassikers, Paquita, und studierte die in München ein. Nach einer Probe erzählt er. Wirkt getrieben. Redet schnell. Ein russisch gefärbtes Englisch. Fließend, aber hart. Er erklärt, wie sehr sich Ballettästhetik und ‑technik verändert habe. Er wirkt damals wie ein etwas nerdiger Wissenschaftler. Völlig versunken in Details. Darin, dass etwa das Spielbein bei den Pirouetten nicht auf Kniehöhe, sondern an der Mitte des Oberschenkels angelegt war. Oder dass Jetés mit gebeugten Beinen gesprungen wurden. Er erklärte, dass er gerade selbst gelernt habe, die Stepanow-Notation zu lesen, eine Schrift, ähnlich wie Musiknoten, in der die ganzen Klassiker aufgezeichnet und überliefert wurden. „Es ist alles da“, sagt er. Es ist ihm wichtig, was er da entdeckt. Er will aufzeigen, dass beinahe nichts von dem, was heute als Klassiker auf den Bühnen aufgeführt wird, dem Original entspreche.
Heute, beinahe zehn Jahre später, ist Alexei Ratmanksy dann noch als ein anderer bekannt. Ein choreografischer Grenzgänger mit politischen Bewusstsein, der seine zeitgenössische Choreographie zu Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung im Frühjahr 2022 am Bayerischen Staatsballett zeigt – und am Ende die ukrainische Flagge zum Großen Tor von Kiew aufleuchten lässt. Der eine sehr eigene Tanzsprache hat, die höchst gefragt ist bei den großen Kompanien. Im Dezember 2022 war er wieder in München. Diesmal mit einer Uraufführung. Er kreierte ein abendfüllendes Ballett zu den Ouvertüren Tschaikowskys. Auf die Frage wie man ein Ballett mit lauter Anfängen, aber ohne ein Ende erschafft, antwortet er lakonisch: „Ich habe mich selbst gefreut, auf diese Frage eine Antwort zu finden.“
Klassisches Ballett und moderner Tanz werden gerne als Gegensätze gestellt. Vergleicht man die Körperhaltung von Schwanensee mit denen Martha Grahams, ist das ja auch ganz offensichtlich. Einmal die ausgedrehten Beine, die aufrechte Körperachse, die strebenden Linien in den Arabesquen. In den Anfängen des modernen Tanzes dann die Umkehrung all dessen: Curves im oberen Rücken, eingedrehte Beine, gebrochene Linien. Und obwohl die großen Kompanien heute alles tanzen, ist die Trennung zwischen Klassik und allem anderen immer noch recht präsent. Umso erstaunlicher ist es, wie sicher sich Alexei Ratmansky zwischen diesen Welten bewegt.
Der russische Choreograf und Tänzer, 1968 in Sankt Petersburg geboren, absolvierte zunächst die klassische Laufbahn. Ausgebildet an der Ballettakademie des Bolshoi-Theaters wurde er schließlich zum Ersten Solisten beim Ukrainischen Nationalballett, beim Royal Winnipeg Ballet und dem Den Kongelige Ballet in Kopenhagen. Schon während seiner aktiven Tänzerlaufbahn choreografierte er, bald war er gefragt bei den berühmten, großen Kompanien. Bis 2008 war er künstlerischer Direktor des Bolshoi-Balletts, seit 2009 ist er als Artist in Residence beim American Ballet Theatre in New York. Richtig berühmt wurde Alexei Ratmansky aber auch durch seine Rekonstruktionen.
Ob er jetzt ein eigenes Werk schaffe oder ein altes rekonstruiere, sei der gleiche Aufwand, erklärt Ratmansky. Doch: „Ich bin in der Regel sicherer mit dem Ergebnis, wenn ich die bereits existierende Choreografie eines Meisters auf die Bühne bringe“, sagt er heute. Schon 2014 zeigte er sich begeistert davon, dass bei der Rekonstruktion ja alles schon da sein. Er nutzt dafür die Aufzeichnungen, die der Choreograf des kaiserlichen russischen Balletts in Sankt Petersburg, Nikolai Sergejew, 1918 in die USA brachte. Die Sammlung wird seit 1969 in Harvard verwahrt. Für Alexei Ratmansky bedingen sich Klassik und kontemporärer Tanz. In seiner Arbeit spiegelt sich das. Das Timing, das Vokabular, die Zusammensetzung oder das Arrangement – das lerne er als heutiger Choreograf von früher: „Es ist, als würde man das Bild eines Meisters im Museum kopieren. Man lernt, wie es gemacht wird.“