Anne-Sophie Mutter
»Erst mal an die Seele denken«
31. Mai 2023
Anne-Sophie Mutter hat mit dem Cellisten Pablo Ferrández ein neues Album eingespielt. Und wusste doch so viel mehr zu erzählen: von innerer Glut und der Kunst als Überlebensstrategie, von Werktreue und Leidenswegen, von Humanismus und ja, von Augenliftings …
Frau Mutter, ist ihr Terminkalender im Schatten von Corona mittlerweile wieder voll?
Im Prinzip ja, obwohl Fernost nach wie vor keine Rolle spielt und vor allem China unberechenbar ist. Aber ich bin ja auch abseits des Rampenlichts viel beschäftigt. In der Hochbegabtenförderung der Anne-Sophie Mutter Stiftung sind manche Dinge einfach unplanbar, so wie mit eigenen Kindern auch. Außerdem bin ich seit letztem Jahr Präsidentin der Deutschen Krebshilfe. Das heißt: Ab und zu sind die sogenannten freien Tage zwischen den Konzerten anstrengender als eine Tournee. Denn das Studieren darf ja nicht zu kurz kommen.
Apropos Begabtenförderung: Vor neun Jahren hat ihnen ein junger Cellist namens Pablo Ferrández vorgespielt – jetzt haben Sie mit ihm das Doppelkonzert von Johannes Brahms aufgenommen.
Wieviel Genius in einem jungen Menschen steckt, merkt man oft unfassbar schnell. Pablo Ferrández war so ein Fall. Freilich bleibt dann die Frage, wie sich so ein Leben weiterentwickelt, auch intellektuell: Was macht er aus der großen Begabung? Bleibt er haften im herkömmlichen Repertoire? Jede Musiker-Generation muss nämlich danach trachten, Zeitzeugnisse mit Kompositionen der Gegenwart zu schaffen. Darüber hinaus ist für mich als Mentorin das gemeinsame Musizieren die beste Art und Weise, die Jungen kennenzulernen und ihnen zugleich auch etwas beizubringen.
Schätzen Sie Partnerinnen und Partner eher wegen Ähnlichkeiten oder Unterschieden?
Wenn ich es mit einem eher dogmatischen Musiker zu tun habe, versuche ich so weit wie möglich ein seine Welt einzutauchen, ihn aber gleichzeitig zu mehr Offenheit zu bewegen. Ich selbst bin undogmatisch, mir geht es in erster Linie um den Nuancenreichtum in der musikalischen Sprache – aber der ursprüngliche Dialekt muss erhalten bleiben. Sogar mit Herbert von Karajan habe ich beim Mendelssohn-Konzert eine erhebliche Meinungsverschiedenheit bezüglich des Tempos des Finales gehabt. Wir konnten uns auf einen Kompromiss einigen. Mit Anfang 20 habe ich dann einen Versuch mit Sergiu Celibidache unternommen: Bis zur Hauptprobe bin ich diesen Leidensweg gegangen. Dann habe ich abgesagt, weil ich es einfach nicht vertreten konnte. Ich bin anderen Meinungen gegenüber sehr offen, aber es muss eine Schnittmenge geben. Celibidache aber sagte schon eingangs: „Vergessen Sie alles, was Karajan je gesagt hat!“ Das wollte ich aber nicht – abgesehen davon, dass es unmöglich ist, 13 Jahre auszuradieren. Manfred Honeck ist ein ehemaliger Streicher, der weiß, wie man atmet mit dem Instrument, wie man begleitet – aber dann aber noch mehr zu bieten hat. Ihn zeichnet aus, dass er die Partituren mit seinem Intellekt und seiner Leidenschaft zugleich erfüllt. Wir musizieren einfach zu dritt, nicht als zwei Solisten mit einem Begleiter.
»In der Musik gibt es manchmal mehrere Wahrheiten.«
Macht es für Sie einen Unterschied, wenn Sie ein altbekanntes oder brandneues Werk zur Hand nehmen?
Bei jedem Stück, ob man ihm nun erstmals begegnet oder es schon lange zu kennen meint, muss man sich immer wieder aufs Neue fragen: Was bedeutet das Wenige, was in den Noten steht? Natürlich ist das von Epoche zu Epoche in der Regel immer mehr geworden. Bei Jörg Widmanns Streichquartett Studie über Beethoven haben wir in zahlreichen Aufführungen viele der „Regieanweisungen“ überarbeitet, das wurde dann auch in die gedruckte Partitur übernommen. Das ist der Idealfall! Witold Lutoslawskis Chain 2 hingegen haben der Komponist und ich als Solistin seit der Uraufführung 1986 in vielen Details bezüglich Tempi und Dynamik weiterentwickelt – aber da ist die Partitur leider nie revidiert worden. Worauf ich hinaus will: Ich muss und darf mir als Interpretin die Frage stellen, ob das in der Partitur festgehaltene wirklich das letzte Wort des Schöpfers ist, ob die Partitur vielleicht vor der Uraufführung gedruckt wurde? Man muss nicht nur mit Informationen aus Internet und Zeitungen kritisch umgehen, sondern auch in der Musik. Ich sage es ungern, aber für uns gibt es manchmal eben mehrere Wahrheiten. Das richtige Tempo steht ebenso wenig unverrückbar fest wie andere Parameter.
»Wir haben lernen müssen, dass Kultur nicht systemrelevant ist.«
Hatten Sie bestimmte Vorstellungen und Ziele für diese Neuaufnahme?
Bei diesem Werk hat mich oft gestört, dass es manchmal eine Art Kräftemessen wurde – ja, das gibt es nicht nur fallweise auf der Opernbühne, sondern auch unter uns Streichern! Das Cello will unbedingt vermeiden, neben dem höheren Register der Geige unterzugehen. Pablo und ich sind darüber gottlob schon lange hinaus. Es ist ja auffällig, dass es bei Brahms unzählige dolce- und piano-Stellen gibt. Man kann die beiden Soloparts als ein großes, gemeinsames Streichinstrument auffassen, zugleich besitzen sie auch jeweils eigene Prägung. Das Dramatische, Stürmische liegt mehr im Cello, das Lyrische, Beschwichtigende in der Violine, ohne dass diese deshalb im feurigen Vortrag zurückstecken müsste. Wir treffen uns immer wieder, sowohl in der Leidenschaft als auch in den freien, rhapsodischen Dialogen. Das macht die Partitur so unfassbar vielschichtig. Neben dem sinfonisch-heroischen Orchesterpart schon im ersten Thema des Kopfsatzes gibt es auch diese intimen Diskurse, die vielleicht auch der Tatsache Rechnung tragen, dass das Werk eine Art Versöhnungsgeschenk war zwischen Brahms und dem Geiger Joseph Joachim. Da braucht es einen Dirigenten, der bei aller Dramatik auch ermöglicht, in dieses Lyrische abzutauchen. Zudem entdeckt Honeck wunderbare innere Stimmen in der Partitur, Jodlerpartien in den Hörnern zum Beispiel. Ich wollte das Doppelkonzert eigentlich mit Lynn Harrell aufnehmen, der aber 2020 ganz überraschend verstorben ist. Pablo ist alles andere als eine zweite Wahl, sondern eine eigenständige Alternative. Für ihn ist es die erste Aufnahme dieses Werks, für mich die letzte. Es ist ein schönes Zeugnis für einen doppelten Blick auf die Partitur, einerseits von einer erfahrenen Geigerin, die das Stück schon oft mit großen Partnern aufgeführt hat – wobei ich nicht behaupten würde, dass Erfahrung allein einen automatisch besser sein ließe –, und eines Angehörigen der jungen Generation enorm begabter Cellistinnen und Cellisten, unter der er eine absolute Ausnahmeerscheinung ist.
Längst wurde die Krise der Klassik ausgerufen. Braucht die Musik mehr Revoluzzer?
Kultur ist nicht systemrelevant, haben wir lernen müssen. Die Sorge steigt, dass Oper, Konzert und Museen wieder zugesperrt werden, und sei es nur wegen steigender Heizkosten. Das gibt jungen Menschen nicht gerade Hoffnung. Hinzu kommt, dass Kunst im Schulunterricht unterrepräsentiert ist, in den Medien spielen wir eine verschwindende Rolle. Was die Kunst immer gebraucht hat, sind Freidenker: Menschen, die – ungeachtet von Alter und Erfahrung – mit innerer Glut auf die Bühne gehen. Aber nicht aus exzentrischem Selbstdarstellungsbedürfnis, sondern weil Musik uns über alle Arten von Grenzen hinweg wundersam verbinden kann, wenn wir es zulassen, und sie in die Mitte der Gesellschaft stellen. Die Auswüchse des Exzentrischen und die Versuche, den Markt zu bedienen, indem man besonders hip, trendy, woke oder whatever erscheinen will, sind für mich der verzweifelte Versuch, einen Platz da zurückzuerobern, wo man ihn uns längst schon weggenommen hat. Das ist nicht als Lamento gedacht, sondern als Tatsachenbericht. Post-Corona, Wirtschaftskrise, Inflation, der schreckliche Angriffskrieg gegen die Ukraine: Bei alldem wird Kunst dringender denn je benötigt, um das Leben überhaupt ertragen zu können und das Miteinander zu feiern. Wenn wir weiter in die Ecke gedrängt werden, führt das sicher zu noch mehr zu marktschreierischem Aktionismus.
Mit der opulenten „Zugabe“, dem Klaviertrio von Clara Schumann, brechen Sie eine Lanze für eine unterschätzte Komponistin.
Sie hat ihren Mann wohl abgöttisch geliebt und war bereit, ihm alles zu sein, auch Hausfrau und Mutter. Dafür hat sie ihre künstlerische Berufung hintangestellt. Noch dazu muss man bedenken, wie risikobehaftet Schwangerschaften damals noch waren – und sie hat ihm acht Kinder geboren! Zugleich war sie gut vernetzt und hatte viele Freunde, die sie sehr geschätzt haben. Das muss ihr viel genützt haben bei dem tollkühnen Plan, als Witwe am Klavier noch einmal durchzustarten. Dass die enge Beziehung zu Brahms nicht in eine Ehe gemündet hat, verstehe ich völlig: Sie wollte endlich selbstbestimmt leben können, sich nicht einem anderen unterordnen. Sie war eine absolute Gallionsfigur.
Was ist das Bemerkenswerte an ihrem Klaviertrio?
Lambert Orkis und ich haben das Trio mit wechselnden Partnern jahrelang immer wieder gespielt. Er sagt, es sei pianistisch unfassbar schwierig und unbequem, sehr ähnlich ihrem Klavierkonzert: Sprünge waren eine Passion von ihr. Hin und wieder hatten Lambert und ich den Eindruck, dass das Trio, wenn es denn überhaupt gespielt wurde, ein bisschen brav, vielleicht sogar lieblos abgehandelt worden ist. Wir haben neben ihrer Eleganz und einer gewissen Contenance auch viel inneres Feuer an Clara Schumanns Musik entdeckt, wo sie durchaus Sturm-und-Drang-mäßig Emotionen zeigt. Im Spiel und im Gespräch mit Pablo sind wir da auch auf eine Nähe zu Mendelssohn gestoßen, auf etwas Leichtfüßiges, auch Drängendes, wie es in dessen Gondelliedern vorhanden ist. Vor allem aber auf dieses musikalische Ringen, das Korsett loszuwerden, das ihr als Frau die Gesellschaft angelegt hat, dieses Ringen, das ihre Musik ausdrückt: Das wollten wir endlich einmal ausspielen.
»Ist die Hülle so wahnsinnig wichtig?«
Sehen Sie sich als Feministin, Frau Mutter?
Ich sehe mich zuallererst als einen Menschen, der für Gleichbehandlung eintritt. Ohne Frage gibt es Teile der Gesellschaft, die besonders benachteiligt sind, dazu gehören immer noch wir Frauen – aber nicht nur. Menschen haben alle die gleichen Ängste, die gleichen Wünsche ans Leben. Und wir haben die absolut gleichen Rechte: Dafür müssen wir kämpfen. Ist das nicht eher Humanismus als Feminismus?
Was sollte sich ändern in der Gesellschaft?
Das könnte vielleicht der Dalai Lama beantworten! Wir sollten uns fragen: Wem will ich gefallen, muss ich überhaupt jemand gefallen? Ist die Hülle so wahnsinnig wichtig? Sind nicht inneres Leuchten, Verständnis, Liebe, Empathie wichtiger? Geht es nicht um das Miteinander, für das wir all unsere Kraft und Leidenschaft aufbringen sollten? Wir leben in einer Gesellschaft, die der Jugend suggeriert, reich, schön, berühmt zu sein wäre das Nonplusultra. Das sind Trugbilder, die uns nicht erfüllen und den Hunger nicht stillen können nach Gemeinschaft, nach dem Gesehenwerden, und zwar nicht der Oberfläche, sondern des Inneren, Wirklichen. Wir sollten unsere sozialen Fähigkeiten optimieren, nicht unser Äußeres. Wir haben ein Recht darauf, als Individuen respektiert zu werden. Und auf einen Körper, der das Leben widerspiegelt. Lasst uns doch erstmal an die Seele denken – dann erst ans Augenlifting.