Anne Teresa De Keersmaeker
Tänzerisches Wunder
von Roland H. Dippel
23. August 2021
Impulse fliegen! Johann Sebastian Bachs „Brandenburgischen Konzerte“ in der Choreografie von Anne Teresa De Keersmaeker. Ihre Tanzkompagnie Rosas schafft ein musikalisches und tänzerisches Meisterwerk
Hier noch eine Stimme für den Chor der Lobeshymnen zur Ausnahmeleistung der Tanzkompanie Rosas in Koproduktion mit der Volksbühne Berlin, La Monnaie / De Munt Brüssel, Opéra de Lille, Opéra National de Paris, Sadler’s Wells London, Les Théâtres de la Ville de Luxembourg, Concertgebouw Brügge, Hollandfestival Amsterdam und Festival de Marseille. Mit minimalistischer Ausstattung auf fast leerer Bühne inszenierte die belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker ein tänzerisches Wunder. Die Polyfonie der vom B’Rock Orchestra unter Amandine Beyer mit lavahaftem Glanz und brillanter Eleganz gestalteten Brandenburgischen Konzerte versuchte sie mit bescheidener Akribie zu ergründen.
Tatsächlich sind die Bewegungsfolgen der Tänzer eine Transformation von Johann Sebastian Bachs polyfonem Stimmengeflecht in theatrale Bewegung – und auf dieser DVD in bewegte Bilder. Eine edlere, besser verstehende und schönere Hommage zum 200-Jahre-Jubiläum dieser am Hof von Köthen entstandenen Concerti grossi geht schwerlich.
Aus Skizzen mit geometrischen Figuren entwarf De Keersmaeker ein formales Gerüst, aus dem sich das Rosas-Ensemble in mannigfaltigen Kombinationen herausschält, hineinfindet und verwirklicht. Die Choreografin wollte sich während des Schöpfungsprozesses dieser Arbeit nur dann an das Wort „Symmetrie“ erinnern, wenn es bei Bach parallele Instrumentalstimmen gibt, was nur selten vorkommt. Die Funktion des energetischen Atomkerns wandert von einer Figur zur nächsten und trotzdem gehorcht der Wirbel der personellen Elektronen dem Drive der Musik. Seltener und bewundernswerter Fall: Die Impulse fliegen nicht nur aus dem B’Rock Orchestra auf die Bühne, sondern auch zurück. Tanz und Musik also in ständiger synergetischer Wurf- und Sprungbereitschaft – faszinierend!
Wenn De Keersmaeker in Bachs Musikverständnis wie viele andere das „soli deo gloria“ (Ehre sei Gott allein) spürt, hat das auf ihre meisterhafte Tanzsprache nur positive Auswirkungen: Sie verwechselt Respekt nicht mit Starre und Gläubigkeit, nicht mit gemessenen Schrittfolgen. Bachs Musik wird zum organischen Bestandteil des Lebens und dessen Dynamik und Dramatik. Das zeigt sich in De Keersmaekers Choreografie bei aller Gedankentiefe, Sensibilität und verklammert mit Amandine Beyers intelligentem Furor, von berückender Schwerelosigkeit. Dasein und Transformation in verschwenderischer und dabei unheilig nachdenklicher Fülle. Ein musikalisches und tänzerisches Meisterwerk.
Auftrittstermine und weitere Informationen zu Anne Teresa De Keersmaeker und Rosas:
www.rosas.be