Annika Treutler
Musik muss politisch sein
von Ilaria Heindrich
19. Juli 2023
Beim Kissinger Sommer beweist Annika Treutler einmal mehr, dass sie eine der interessantesten jungen Stimmen am Klavier ist. Im Interview spricht sie über ihre Liebe zur Kammermusik, vertraute Orte und ergreifende musikalische Momente.
CRESCENDO: Sie sind nicht zum ersten Mal in Bad Kissingen?
Annika Treutler: Nein, ich war tatsächlich schon zwei Mal hier. Ich habe einmal beim KlavierOlymp des Kissinger Sommers mitgemacht. Also kenne ich sowohl das Hotel, in dem ich untergebracht bin, als auch den schönen Rossini-Saal, in dem wir gestern gespielt haben. Ich genieße es immer sehr an Orte zurückzukommen, an denen ich schon einmal Jahre vorher gewesen war. So kann man seine Stationen im Leben wahrnehmen und einordnen: wieder hier zu sein, auf der Bühne zu sitzen, wo ich auch schon andere Stücke gespielt und erlebt habe.
Übt die Erinnerung an vertraute Orte Einfluss auf Ihr Spiel aus?
Ich weiß nicht, ob es das Musizieren verändert, aber das Gefühl ist ein anderes … Und das ist im besten Falle positiv (lacht). Es ist schön, eine Entwicklung zu spüren. Damals, als ich zum ersten Mal hier aufgetreten bin, war ich wesentlich jünger. Und jetzt mit mehr Reife, Eindrücken und musikalischen Erfahrungen wiederzukommen, ist ein schönes Gefühl. Gestern habe ich mir gedacht, wie schön es doch auch sein kann, älter zu werden und auf diese Erfahrungen zurückgreifen zu können.
Sie und Ihr Spielpartner Daniel Müller-Schott kennen sich auch schon länger …
Ja, seit fast 14 Jahren. Uns verbindet mittlerweile ein Vertrauensverhältnis. So entstand gestern beim Konzert eine runde, schöne Atmosphäre.
Hat es zwischen Ihnen musikalisch sofort gefunkt?
Das würde ich gar nicht so sagen, da wir uns kennengelernt haben, als ich noch sehr jung war. Bei einem Sommercampus in Rostock – er war Dozent dort. Er fragte mich damals direkt nach dem Eröffnungskonzert, ob ich auch Cello-Repertoire spielen würde. Für mich, damals 18, war das etwas sehr Besonderes, für mich war Daniel natürlich der große Musiker Daniel Müller-Schott … Aber wir haben den Kontakt über viele Jahre gehalten und 2017 das erste Mal gemeinsam miteinander musiziert. Was ich nun nach vielen Jahren des gemeinsamen Spielens sehr genieße ist, dass eben sehr viel Vertrauen da ist und so auf der Bühne totale Freiheit entstehen kann. Und das ist das Schönste – nicht sagen zu müssen: Wir haben das so geprobt, also wird es immer so klingen, sondern dass man sich vom Moment inspirieren lässt. Und das geht nur mit Partnern, mit denen man sich frei fühlen kann.
»Es braucht eine Basis menschlicher Art, um kreativ im Moment sein zu können.«
Ist gegenseitiges Vertrauen beim Musizieren für Sie also essenziell?
Es gibt auch Ensembles, die keine gute Energie untereinander haben, aber gemeinsam Musik machen können. Ich kann mir das persönlich nicht so gut vorstellen und denke, dass es eine Basis menschlicher Art braucht, um wirklich kreativ im Moment sein zu können. So ergibt sich Vieles beim Spielen, ohne etwas ausdiskutieren zu müssen.
Wie hat sie das Thema Italien bei Ihrer Programmauswahl beeinflusst?
Unser Geschenk an das Festival war der Boccherini. Wir haben uns für dieses Stück entschieden, da es zum einen für den Cellisten ein ansprechendes Werk ist – eigentlich ist es ja ein Duo für zwei Celli, ein Solo-Instrument und Basso continuo. Jetzt, mit einem modernen Konzertflügel, kriegt es eine andere Farbe, die von Boccherini gar nicht so gedacht war. Zum anderen war dieser Bogen vom Adagio und Allegro von Boccherini hin zum Adagio und Allegro von Schumann im Programm ganz schön – also zwei Werke aus ganz unterschiedlichen Zeiten. Die Werke lassen sich wunderbar gegenüberstellen: hier die sprechende Qualität des Boccherini, dort diese herrlichen Schumann-Kantilenen mit ihren endlosen Bögen.
Sie haben erst kürzlich für eine kammermusikalische Einspielung mit dem Hohenstaufen Ensemble den Opus Klassik erhalten. Warum spielt Kammermusik für Sie eine so zentrale Rolle?
Mir liegt die Kammermusik sehr am Herzen, weil ich mich gerne mit Menschen austausche. Und wenn ein Austausch auch noch allein über die Musik möglich ist, ist das für mich das Schönste, was es gibt. Pianisten sind ja doch oft eher einsame Gestalten – arbeiten nur für sich, spielen nur für sich. Also bin ich dankbar für musikalischen Austausch in jeder Form – das ist auch meine Inspiration. Und all diese großen Musiker – wie Daniel Müller-Schott – und deren Sicht auf Werke kennenlernen zu können, ist wunderbar. Ich genieße dieses gegenseitige Erzählen auf der Bühne sehr.
Die Intimität ist eine andere als mit großem Orchester …
Auch beim Musizieren mit Orchester profitiere ich von kammermusikalischen Erfahrungen. Das Zusammenspiel mit einzelnen musikalischen Stimmen aus dem Orchester wird geschult. Ich höre auf Bläsersoli von hinten und kann auf unterschiedliche Stimmen reagieren. Einander zuzuhören und gleichzeitig zu reagieren ist bei der Kammermusik unglaublich wichtig und diese Fähigkeit lässt sich wunderbar auf die solistische Tätigkeit mit Orchester übertragen.
Gibt es weitere Künstler, mit denen Sie gerne noch arbeiten würden?
Wer mich immer inspiriert ist Janine Jansen. Sie geht mit einer solchen Intensität in ihrem Spiel in Extreme. Sie taucht tief in jedes Werk ein und, so habe ich es schon oft von Kollegen gehört, geht mehrere Interpretationsansätze eines Stückes bei den Proben durch. Sie ist eine Musikerin, mit der ich nur träumen kann zu musizieren – ich finde sie einfach großartig.
»Ich glaube nicht, dass wir uns aus der Politik raushalten können.«
Kommen wir noch einmal zurück auf Bad Kissingen … Das Festival findet seit 1986 statt. Damals nahe an der Grenze zur DDR, legte es einen Schwerpunkt auf die Festigung der kulturellen Verbindungen zwischen Ost- und Westeuropa. Wie wichtig ist für Sie die politische Stellungnahme in der Kulturbranche? Muss Musik politisch sein?
Das ist eine große Frage: Können wir Musiker unpolitisch sein? Diese Frage hat mich zum ersten Mal beim Krzyżowa Music Festival umgetrieben. Ein Festival, bei dem sich Musiker aus aller Welt und verschiedenster Generationen treffen. Bei einem Symposium saßen wir alle zusammen und diese Frage wurde gestellt – es wurde leidenschaftlich diskutiert. Ich saß da, völlig still, und bemerkte, dass ich selbst keine klare Haltung zu dem Thema hatte. Aber ich glaube, dass es sehr wichtig ist, dass jeder Musiker für sich selbst eine Haltung entwickelt, da ich nicht glaube, dass wir uns aus der Politik raushalten können. Es gibt diese Möglichkeit einfach nicht, zu sagen: „Ich bin Musiker und habe mit Politik nichts am Hut“. Jetzt noch weniger als vor fünf Jahren. Also habe ich mir damals überlegt, was ich tun kann.
Aus dieser Überlegung ist ein großes Projekt entstanden …
Ja, genau. Das Projekt heißt #respondinmusic und beschäftigt sich mit den Schicksalen und
verlorenen Kompositionen jüdischer Komponistinnen und Komponisten, die im Holocaust umkamen.
Warum haben Sie dieses Thema gewählt?
Ich bezeichne mich selbst immer gerne als „deutsches Gewächs“: Ich bin in Deutschland groß geworden und habe eine deutsche Erziehung genossen. Dadurch interessiere ich mich stark für die deutsche Geschichte, und somit lag es dann nahe, den Blick auf den zweiten Weltkrieg zu richten. So war mein Anliegen, als Musikerin einen Beitrag zu leisten, inwieweit wir uns gesellschaftlich engagieren können –eben nicht nur geschichtlich und politisch, sondern was können wir der Gesellschaft Gutes tun. So ergab sich in der Pandemie ein Kreis an Fragen: Sind wir als Musiker überhaupt systemrelevant? Was können wir zum Wohl der Gesellschaft beitragen?
»Mit Musik kann man Geschichten und Geschichte erzählen.«
Welche Möglichkeit bietet das Medium Musik hinsichtlich dieser Frage?
Ich möchte mit dem Projekt auch zeigen, dass man mit Musik eben nicht nur in einem kurzen Moment berühren kann, sondern auch Geschichten und Geschichte erzählen kann. So ergab sich zum Beispiel eine Art Musikerportrait über den ermordeten Komponisten Viktor Ullmann. Es gab unglaubliche viele, heute unbekannte Musiker, die im Holocaust umgekommen sind – in diesen Transportern wurde Musikgeschichte ausgelöscht.
Es ist aber von großer Bedeutung, den Blick eben nicht nur zurückzuwenden, sondern in die Zukunft
zu richten. Was können wir tun, damit das nicht wieder passiert? Und dieser Aspekt geht weit über die Musikerwelt hinaus – es geht darum, die menschlichen Aspekte als Menschen zu betrachten und diese in die Zukunft mitzunehmen und herauszufinden, wie wir in Zukunft frei und demokratisch zusammenleben wollen und können.
Sie haben mit dem Projekt auch viele junge Menschen erreicht.
Wir haben mit diesem Projekt mit Musikern verschiedenster Nationalitäten viele Schulen besucht. Uns alle hat vereint, dass wir als Gesellschaft miteinander sein und uns als Menschen zuhören wollen. So haben wir eine zweiwöchige Schultour durch ganz Deutschland organisiert und den Schülern etwas über Viktor Ullmann erzählt sowie Musik aus der Kriegszeit gespielt. Wir wollten Kontexte schaffen, um Geschichte musikalisch zu erzählen. Musik ist wunderbar, da man durch die Emotionalität in der Musik Menschen erreichen und für bestimmte Themen sensibilisieren kann.
Haben die Schüler über die Musik einen leichteren Zugang zur Geschichte gefunden?
Während dieses Projekts sind einfach unglaubliche Momente entstanden, die ich mir in einem Rossini-Saal nie hätte vorstellen können. Viele Schüler haben geweint, waren gerührt. Anfangs hatte ich Bedenken, die Schüler nicht erreichen zu können in so einer schwierigen Phase wie der Pubertät. Dabei hatten wir so offene Seelen vor uns, dass wir gemeinsam sogar Tränen teilen konnten. An einen Moment erinnere ich mich besonders. Unsere Sängerin, die in einer geteilten Stadt in Zypern aufgewachsen war, sagte den Satz: „Hass kann keine Lösung sein“. Darauf entgegnete ihr ein syrischer Schüler: „Doch!“ In dem Moment brach eine ganze Welt auf: Wir fragten uns, was wir da taten, da wir nie das erlebt hatten, was dieser Schüler erlebt hatte. Dann haben wir kurzerhand das Programm umgeschmissen und Ravels Kaddisch gespielt – ein Gebet im Andenken an die Toten. Der Schüler veränderte sofort seine Mimik. Danach kam er zu uns, nahm seine Hände auf die Brust und bedankte sich mit Tränen in den Augen – von der Lehrerin hörten wir später, dass er seinen Bruder im Krieg verloren hatte. Allein für diese Momente lohnt es sich!