Arthur Nikisch
»Auserwählter unter den Auserwählten«
von Ruth Renée Reif
22. Januar 2022
Mit suggestiver Kraft brachte er die Musiker dazu, ihm wie ein einziges Instrument zu folgen. Arthur Nikisch galt als Zauberer vor dem Orchester. Am 23. Januar 2022 ist sein 100. Todestag.
Arthur Nikisch, 1855 in Mosonszentmiklós geboren, studierte am Konservatorium in Wien Geige und Klavier und begann seine Laufbahn als Geiger verschiedener Orchester. In dieser Rolle saß er auch im Wiener Hofopernorchester, als 1873 Anton Bruckner die Uraufführung seiner Zweiten Sinfonie dirigierte. Im Anschluss an sein Geigenstudium absolvierte Nikisch eine Dirigentenausbildung bei Felix Otto Dessoff, der ihn mit einem Schreiben nach Leipzig empfahl. „Gehen Sie an dem Mann nicht achtlos vorbei“, hieß es darin. Er habe „ein Können, das mich oft Staunen macht“.
Nikisch wurde Chordirektor am Stadttheater Leipzig und nach einem Jahr bereits Erster Kapellmeister. Pjotr Tschaikowski, der sich 1888 in Leipzig aufhielt, zeigte sich in seinen Reiseerinnerungen beeindruckt von der „Zauberkraft“, mit der Nikisch das Orchester zwinge, „bald zu donnern wie tausend Trompeten von Jericho, bald sanft zu gurren wie ein Täubchen, bald in geheimnisvoll drohenden Klängen zu verhallen“.
1883 kam der Pianist und Schüler Anton Bruckners Joseph Schalk nach Leipzig und stellte Nikisch eine vierhändige Bearbeitung von Bruckners Siebter Sinfonie vor. Nikisch fing sofort Feuer und versprach, die Sinfonie zur Uraufführung zu bringen. Im Jahr darauf ging das Ereignis, dessen Vorbereitung von einem ausführlichen Briefwechsel zwischen Bruckner und Nikisch begleitet war, mit dem Gewandhausorchester über die Bühne.
Elf Jahre darauf wurde Arthur Nikisch, der unterdessen Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra und Direktor der Königlichen Ungarischen Oper war, als Gewandhauskapellmeister nach Leipzig berufen. Die Berufung ging einher mit einem weiteren Angebot aus Berlin: Das 1882 gegründete Philharmonische Orchester suchte als Nachfolger von Hans von Bülow einen Chefdirigenten. Nikisch hatte seine Stellung in Boston und Budapest nicht aufgeben wollen. Aber nach dem Ruf aus Leipzig, wo ihn einer der renommiertesten und traditionsreichsten Klangkörper erwartete, der die berühmtesten Werke uraufgeführt hatte, sagte er auch in Berlin zu. Beide Positionen in Leipzig und Berlin füllte er bis zu seinem plötzlichen Tod im Alter von 66 Jahren aus.
„Ein langmähniger, kaum mittelgroßer Mann mit der natürlichen Lässigkeit des geborenen Grandseigneurs betritt das Podium“, beschrieb ein Kritiker Nikischs Antrittskonzert am 14. Oktober 1895 in Berlin. Auf dem Programm stand u.a. die Fünfte Sinfonie von Peter Tschaikowski. Die Musikwissenschaftlerin und Dramaturgin Susanne Stähr stellt in der Orchestergeschichte der Berliner Philharmoniker die Frage, wie es Nikisch gelungen sei, das Orchester in prekärer Lage nicht nur zu konsolidieren, sondern es zu Weltruhm zu führen. Und sie beschreibt seine Arbeit mit den Musikern: „Nikisch pflegte das Geben und Nehmen, er spendete Anregungen, und er griff gleichzeitig Impulse aus dem Orchester auf.“ Von bezwingender Höflichkeit sei sein Umgangston gewesen und unübertroffen seine Kunst, „die Seele seiner Musiker zu sezieren und zu ergründen“. Nikisch selbst nannte „Magnetismus, Suggestion, Lebenserfahrung, die Kunst, sich zu den Ausführenden zu stellen, Überredungskunst, selbst Humor“.
Nikischs Fähigkeit, Partituren zu lesen, auf Anhieb zu erfassen und sie in kürzester Frist zu verinnerlichen, sei, wie Stähr ausführt, außergewöhnlich entwickelt gewesen. Auch bekannte Werke habe er immer anders interpretiert und auf die Intention des Augenblicks gesetzt. Johannes Brahms glaubte seine Musik unter Nikischs Stabführung zunächst nicht wiederzuerkennen. Sein anfängliches Entsetzen wandelte sich jedoch in Bewunderung. „Zum Schluss“, so Nikisch, „kam er freudestrahlen zu mir und sagte: ‚Sie haben ja alles ganz anders gemacht; aber sie haben recht – so muss es sein!‘“
Arthur Nikisch: »Der moderne Dirigent ist ein Neuschöpfer.«
Für Nikisch sei es keine Frage gewesen, auch in die Partitur einzugreifen, wenn er es als nötig angesehen habe: „Der moderne Dirigent ist ein Neuschöpfer: Darin beruht die Selbstständigkeit und der produktive Charakter seiner Kunst, darum spielt die Individualität des Orchesterleiters heute eine so eminente Rolle“, erklärte er sein Selbstverständnis.
Am 10. November 1913 begab sich Nikisch mit dem Berliner Philharmonischen Orchester erstmals in ein Aufnahmestudio, um Beethovens Fünfe Sinfonie einzuspielen. Das war eine Première. Noch nie zuvor war eine komplette Sinfonie auf Tonträger aufgenommen worden.
Das Gewandhausorchester unter Andris Nelsons würdigt Arthur Nikisch anlässlich seines 100. Todestages mit einer Reihe großer Konzerte. Ab 23. Januar 2022 gibt es zudem einen Stream. Weitere Informationen dazu unter: www.gewandhausorchester.de