Porträt von CRESCENDO Autor Axel Brüggemann

Romeo Castellucci und Hermann Nitsch

Vom Bühnen-Kitsch zur voll­kommen neuen Bühnen-Realität

von Axel Brüggemann

6. September 2021

Raum-Gedanken zu den Festspiel-Inszenierungen des Sommers 2021

Die Oper ist eines der ersten wirk­li­chen „Multi­me­dien“, also eine Ausdrucks­form, die unter­schied­liche Medien – oder sagen wir: Ausdrucks­mög­lich­keiten, oder noch besser: künst­le­ri­sche Spra­chen – mitein­ander verbindet. Natür­lich ist da die Musik, aber eben auch der Text und natür­lich die Bildende Kunst in Form von Bühnen­bil­dern und Kostümen.

Beson­ders span­nend ist dieses Aufein­an­der­treffen der unter­schied­li­chen Diszi­plinen immer dann, wenn sie sich nicht doppeln, sondern ergänzen, einander viel­leicht sogar wider­spre­chen. Mozart schafft diesen Effekt am Ende seines Figaro, wenn sich auf der Bühne alle die große Treue schwören und im Orchester bereits revo­lu­tio­näres Durch­ein­ander tobt, oder , wenn die Freund­schaft besungen wird, während im Orches­ter­graben das Leit­motiv des Mein­eids und des Verrates zu hören ist. Mit anderen Worten: die unter­schied­li­chen Erzähl­formen inner­halb der Oper können bestä­ti­gend oder dialek­tisch einge­setzt werden, das musi­ka­li­sche Narrativ stärken oder es unter­graben.

Es hat sich etabliert, dass Text und Musik eine unver­rück­bare Einheit bilden, dass beides, logi­scher­weise, Teil der Partitur ist – und in der Regel von Regis­seuren auch nicht ange­fasst wird. Anders verhält es sich mit der Ausstat­tung und dem Bühnen­bild. Liest man Richard Wagners epische Anwei­sungen für das Finale der Götter­däm­me­rung, wäre es noch heute, selbst mit den modernsten Mitteln, schwer für einen Regis­seur, sie umzu­setzen. Von oder Mozart, aber auch von oder sind dagegen keine oder kaum Anwei­sungen zum Bühnen­ge­schehen über­lie­fert. Das bedeutet: Kostüm- und Bühnen­bildner sind wesent­lich freier im Umgang mit den Werken als etwa Sänge­rinnen und Sänger, Musi­ke­rinnen und Musiker oder Diri­gen­tinnen und Diri­genten. Die größte Deutungs­ver­schie­bung der Oper, von der wir meinen, sie sei eine Kunst für das Ohr, ist also dem Auge vorbe­halten: Bühnen­bildner können Mozart in die Zukunft, Verdi ins Bieder­meier oder Strauss in die Antike verlegen, Ausstatter können Männer als Frauen und Frauen als Männer verkleiden. Dafür, dass das Bühnen­bild für die Inter­pre­ta­ti­ons­ge­schichte der Oper derart entschei­dend ist, ist es erstaun­lich, dass es bei der Kompo­si­tion einer Oper so gut wie keine Rolle zu spielen scheint. Fast jeder Kompo­nist scheint die unge­schrie­bene Regel zu akzep­tieren, dass die Ausstat­tung für die ewig neue Erzähl­form ihrer Werke zuständig ist.

Natür­lich gab es in der Geschichte der Oper immer wieder Versuche von Kompo­nisten, Nähe zur Bildenden Kunst zu etablieren: Wir kennen die Zusam­men­ar­beit von mit Serge Diag­hilew und seinen „Ballets Russes“. Jeder, der in der MET in New York war, kennt den Bühnen­vor­hang von zur Zauber­flöte, und der fran­zö­si­sche Künstler bebil­derte 1980 die Urauf­füh­rung von György Ligetis Le Grand Macabre in Stock­holm. 

Inzwi­schen gehört es zum guten Ton von Bildenden Künst­le­rinnen und Künst­lern, auch Mal eine Oper ausge­stattet zu haben – was übri­gens nicht immer erfolg­reich geschieht: hat es getan, tauchte Bayreuths Lohen­grin in blaue Farbe, letzt­lich war auch der Bayreu­ther Parsifal von eine Begeg­nung der Oper mit der Akti­ons­kunst. Der Archi­tekt bebil­derte Olivier Messiaens Monu­men­tal­werk Saint Fran­çois d’As­sise an der Deut­schen Oper in Berlin. Einzig zog vor der Parsifal-Première in Bayreuth die Reiß­leine und gab den Auftrag für das Bühnen­bild zurück.

In diesem Fest­spiel­sommer hatten wir es gleich mit zwei sehr künst­le­risch gedachten Bühnen­bil­dern zu tun: dem Salz­burger Don Giovanni und der Bayreu­ther Walküre. Der italie­ni­sche Regis­seur hat die Fächer Bühnen­bild und Malerei in Bologna studiert und tingelt seither mit seinen ästhe­ti­schen Opern­pro­duk­tionen durch die Welt. In der Salz­burger Eröff­nungs­oper, dem Don Giovanni, war das „System Castel­lucci“ erneut zu studieren: Im ersten Teil setzte er eine Mate­ri­al­schlacht in Szene. Bevor die Musik begann, entrüm­pelten Arbeiter samt Hebe­bühne einen Kirchen­raum und entweihten ihn – ein glattes Bild für den Hedo­nisten Don Giovanni. Dieser Raum wurde nun zur Bühne für die Höllen­fahrt von Don Giovanni. Aus dem Schnür­boden ließ Castel­lucci andau­ernd Symbole aus unserer Konsum­welt krachen: Klaviere, Basket­bälle, silberne Autos und Kopier­ge­räte als Götzen des modernen Menschen. Im zweiten Teil gab es weniger Aktio­nismus, dafür mehr „grie­chi­schen Chor“: Castel­lucci ließ 140 Kleider für 140 Frauen schnei­dern, jedes einzelne mit eigenem Farbton auf einer Skala von weiß bis pink. Und natür­lich waren die Damen irgend­wann auch Mal nackt, also fast, in haut­far­bene Unter­wä­sche gekleidet. Don Giovanni selbst fuhr schließ­lich tatsäch­lich ohne Klamotten in die Hölle, selbst sein Glied war mit weißer Farbe beschmiert – das Ende eines Bilder­rau­sches. 

Wohl selten war eine Opern­aus­stat­tung so teuer wie diese, und dennoch blieb sie andau­ernd an der Ober­fläche. Der Grund: Romeo Castel­lucci illus­trierte eben keine neue Mozart-Ebene, sondern stat­tete Mozarts Oper mit Eins-zu-Eins-Illus­tra­tionen aus, mit platten Bild-Inter­pre­ta­tionen, wie sie aus Dr. Königs Erläu­te­rungen kommen könnten. Keine neue Einsicht durch die Ebene des Bildes, was ja auch nicht immer sein muss. Aber auch kein Subtext zur Oper, keine wirk­liche Verge­gen­wär­ti­gung des alten Stoffes. Roberto Castel­luccis Salz­burger Don Giovanni ist ein Para­de­bei­spiel für ein „schönes Bühnen­bild“, für ein leeres Spek­takel, für die Verdop­pe­lung von Mozart, der genau das nicht nötig hat.

Radikal anders – und auch nicht als Insze­nie­rung, sondern als Über­gangs­lö­sung und als Aktion gedacht – war die dies­jäh­rige Walküre der Bayreu­ther Fest­spiele. Akti­ons­künstler Herr­mann Nitsch, der durch seine Blut- und Einge­weide-Schlachten berühmt wurde, bebil­dert den wohl liebes­tau­melndsten Teil von Richard Wagners Ring des Nibe­lungen. Dabei geht es Nitsch nicht darum, eine Geschichte zu erzählen, sondern ein Farb­spek­trum zu kreieren, das Asso­zia­tionen zur Musik zulässt, sie lenkt und führt. Von drei Wänden tropfen die Mitar­bei­te­rinnen und Mitar­beiter des Künst­lers Farben in die Tiefe, wo sie zu unter­schied­li­chen Mustern verlaufen, einander über­de­cken und inein­ander verfließen. Gleich­zeitig werden weitere Farben mit Eimern – so laut und unrhyth­misch, dass es zuweilen von der Musik ablenkt – auf den Bühnen­boden gegossen, wo sie eben­falls zu Schichten wachsen, in denen sich die Stim­mungen der Hand­lung spie­geln

In der Pause sagte ein Bayreuth-Mitar­beiter mit breitem Grinsen: „Das Farb-Gedöns auf der Bühne stört jeden­falls weniger als eine verun­glückte Regie.“ Was er viel­leicht meinte ist, dass Nitsch gar nicht versucht, Wagner umzu­deuten, er über­setzt seine Worte und Musik ledig­lich in ein anderes Medium, das eben­falls für sich stehen könnte, das Medium der Bildenden Kunst. Nitsch asso­zi­iert frei und nimmt mit seinen Vorstel­lungen von Rausch-Momenten, von „roten“ und „grünen“ und „gelben“ Musik-Passagen, das Publikum an die Hand, ohne es von der Musik abzu­lenken. So schafft er es, dass die Bühne stets im Vorder­grund steht, ohne sich aufzu­drängen – als eigen­stän­diges, die Musik ergän­zendes Medium.

Tatsäch­lich scheinen die Bayreu­ther Fest­spiele, also , zu verstehen, dass die Bühne und das Bühnen­bild das wich­tigste Mittel sind, um Opern immer wieder aus unserer Gegen­wart heraus zu befragen. Spek­ta­ku­läre Szenen haben eine lange Tradi­tion in Bayreuth: der Mode-Ring von und der Desi­gnerin Rosalie, oder der blaue Neo-Rauch-Rausch im Lohen­grin.

Wirk­lich neu gedacht wird das Thema Bühnen­bild in Bayreuth dann 2023, wenn der Medien-Forscher und Regis­seur Jay Scheib den neuen Parsifal insze­nieren wird. Sein Clou: durch Augmented Reality verschmilzt für das Publikum im Fest­spiel­haus das eigent­liche Bühnen­ge­schehen durch AR-Brillen mit animierter Virtua­lität. Das Bühnen­bild wird also auf eine voll­kommen neue Ebene gehoben. Damit macht Bayreuth seinem Namen als Werk­statt alle Ehre und führt die Idee von Richard Wagner fort, der darunter eben nicht die Paral­le­lität der unter­schied­li­chen Künste verstand, sondern die kunst­volle Verschrän­kung, den Dialog der einzelnen Medien im Gesamt­kunst­werk Oper!

Fotos: Porträt von CRESCENDO Autor Axel Brüggemann