Kunstprojekt an der Carl - Orff- Grund- und Musikmittelschule in Dießen am Ammersee mit dem ortsansässigen Künstler Christian Wahl

Carl Orff

Urmu­si­kant, Urdra­ma­tiker und Bühnen­mensch des Welt­thea­ters

von Teresa Pieschacón Raphael

5. Juli 2020

125 Jahre Carl Orff: Seine Klangsprache ist unverwechselbar, seine Bühnenwerke sind originell, und seine Pädagogik ist nach wie vor aktuell. Carl Orff war ein Genie – mit ein paar Ecken und Kanten.

Das schönste Denkmal für einen Kompo­nisten sei es „wenn er im Spiel­plan bleibt“, fand . Mit seiner bombas­ti­schen Chor-Hymne „O Fortuna“ aus den Carmina Burana gelang es ihm. Wer sie im Ohr hat, wird sie nicht mehr los, diese orgi­as­ti­sche Ode auf die Jugend und Lebens­freude zu Ehren der Schick­sals­göttin Fortuna. Seit der Urauf­füh­rung 1937 in wird sie in die weite Welt hinaus­po­saunt. Vom Münchner Odeons­platz bis hin in die Verbo­tene Stadt in Peking. In Ritter-Filmen aus Holly­wood wie auf großen Boxkämpfen und Reit­tur­nieren. Von Rappern wie Puff Daddy bis hin zu André Rieu. In der Werbung für Schweizer Scho­ko­lade oder austra­li­sches Bier. „O Fortuna“ gleich „O(rffs) Fortuna“ könnte man meinen.

Nach einer Auffüh­rung von Richard Wagners Der Flie­gende Holländer kann der 14-Jährige tage­lang nicht reden und

Jahr­zehnte der Suche und der Unsi­cher­heit waren diesem Erfolg voran­ge­gan­genen, auch wenn Orff im Rück­blick schrieb: „In meiner Jugend war alles schon in mir vorge­formt und verar­beitet“. Geboren wurde Carl Orff 1895 im der Prinz­re­gen­ten­zeit in eine alte baye­ri­sche Offi­ziers- und Gelehr­ten­fa­milie, in der musi­ziert wurde. Nach einer Auffüh­rung von Richard Wagners Der flie­gende Holländer kann der 14-Jährige tage­lang nicht reden und essen.

Carl Orff 1917, (c) Orff-Stiftung
Carl Orff 1917, © Orff-Stif­tung

„Ich brauche kein Abitur, ich brauche Musik.“ Carl Orff

Orff „tobt“ sich auf dem Klavier aus. Die Schul­noten verschlech­tern sich und der Onkel droht: „Ein Orff, der kein Abitur hat, nicht auf der Univer­sität zuge­lassen wird und keinen Doktor machen kann, ist kein Orff!“. Worauf der Junge kühl erwi­dert: „Ich brauche kein Abitur, ich brauche Musik und ich kriege den Doktor h.c. sowieso, genau wie mein Groß­vater“. Und er sollte Recht behalten, wenn man an die späteren Ehren­dok­tor­würden aus und München denkt. Orffs einzige Tochter Godela beschrieb die dama­lige fami­liäre Situa­tion so: „Mein Vater aber entgleiste und wurde ein armer Künstler“.

Aber war das wirk­lich so? Mit 16 Jahren war er zwar ohne Abitur von der Schule abge­gangen, aber für seine erste Lied­samm­lung Eiland über­nahm der Groß­vater, General Koestler, den Druck­kos­ten­zu­schuss. Der Unter­richt an der Musik­aka­demie in München aller­dings wollte dem jungen Mann, der für , Debussy und Schön­berg schwärmte, nicht behagen. Die Empfeh­lung eines Akade­mie­pro­fes­sors aus „diesem Ort des muffigen Geistes des 19. Jahr­hun­derts“ aber bekam er trotzdem, und so trat er 1916 die Kapell­meis­ter­stelle an den Münchener Kammer­spielen an – inmitten des Ersten Welt­krieges, der auch ihn nicht verschonte.

VON DER OSTFRONT KEHRTE ORFF ALS „KRIEGS­VER­WEN­DUNGS­UN­FÄHIG“ ZURÜCK

Schon 1917 aber wurde er an der Ostfront verschüttet. „Kriegs­ver­wen­dungs­un­fähig“ war er seitdem – und seine „wunder­liche Mili­tär­lauf­bahn“ beendet, wie er schrieb. 1918 fand er sich als Kapell­meister bei am Natio­nal­theater und am Hoftheater wieder, doch im Sommer 2019 war er wieder zurück in seinem geliebten München.

„Ich hatte eine sehr einsame Kind­heit“ Godela Orff

Ein Jahr später heira­tete er die Sängerin Alice Solscher. Es ist Alice, die sich nach wenigen Jahren Ehe von ihm trennt. Orff gibt Godela, das gemein­same Kind, in ein Schweizer Internat und verei­telt so jeden Versuch der Mutter, die Tochter zu sich zu nehmen. Schließ­lich wandert Alice 1930 nach aus. „Mein Vater war damals noch sehr jung“, beschreibt Godela die Situa­tion, „er hatte kein Geld und konnte nichts mit einem Baby anfangen (…) Ich wurde an verschie­densten Orten unter­ge­stellt (…) Ich hatte dadurch eine sehr einsame Kind­heit“.

Carl Orff 1975
Carl Orff 1975, Foto: Karl Alliger, © Carl-Orff-Stif­tung, Archiv: Orff-Zentrum-München. Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung von Johanna Alliger

Meister wie Monte­verdi faszi­nierten Orff mit ihrer strengen Ordnung

Trotz der Vorschüsse des Schott Verlags ist Orff oft mit der Miete und den Inter­nats­ge­bühren im Rück­stand. „Wenn er nicht mehr zahlte, wurde ich heim­ge­schickt“, erin­nert sich Godela. Es heißt, er habe in den 30er Jahren diverse Lehr­an­ge­bote abge­lehnt. Er wollte wohl in München bleiben, bei seiner Alma mater, der Musik­samm­lung der Baye­ri­schen Staats­bi­blio­thek. Hier konnte er sich in das Werk der alten Meister wie Monte­verdi oder di Lasso vertiefen, die ihn mit ihrer strengen Ordnung faszi­nierten. Sein Schüler, der Kompo­nist Karl Marx, erin­nert sich an „dicke Bände (…), Gesamt­aus­gaben von , Pachelbel, Krieger, Haßler, Lasso“, die auf Orffs Flügel lagen.

Bühnenbildentwurf zu Carl Orffs "Oedipus der Tyrann" von Helmut Jürgens zur Aufführung 1961
Bühnen­bild­ent­wurf zu Carl Orffs „Oedipus der Tyrann“ von Helmut Jürgens zur Auffüh­rung 1961, © Uwe Jürgens

Von Hände­klat­schen und Finger­schnalzen bis zur Beherr­schung komplexer Schlag­in­stru­mente sollte alles die Kinder­krea­ti­vität anregen

1923 begeg­nete er Doro­thee Günther. Sie teilte seine Liebe zur alten Musik, aber auch den Glauben an deren elemen­tare, ursprüng­liche Kraft. 1924 grün­deten sie die Günther-Schule, eine Ausbil­dungs­stätte für Spiel, Gesang und Tanz für Kinder. Hier begann Orff mit seiner Arbeit am Schul­werk, das vom Hände­klat­schen, Finger­schnalzen und Fußstampfen bis hin zur Beherr­schung komplexer Schlag-Instru­mente die Krea­ti­vität der Kinder anregen sollte. Educa­tion im wahrsten Sinne des Wortes – lange bevor der Begriff im Musik­be­trieb über­haupt in Mode kam.

Rhythmus ist das Leben selbst!

Orff strebte die „Rege­ne­ra­tion der Musik vom Tanz her“ an. Sprache, Klang, Geste und Bewe­gung sollten zu einer Einheit werden, verbunden durch den Rhythmus, der „das Leben selbst“ sei. Orffs Melo­dien blieben eingängig und kurz, kannten keine Entwick­lung; auch die Harmo­nien waren von erstaun­li­cher Einfach­heit. Dennoch gelang ihm eine eigene Tonsprache, die keiner Schule folgte, oft nach­ge­ahmt wurde und doch unnach­ahmbar blieb.

Carl Orff mit Kindern
Carl Orff mit Kindern © Strobl, Archiv der Carl-Orff-Stif­tung, Orff Zentrum München

„Alles, was ich bisher geschrieben habe, können Sie einstampfen!“

„Ich bin Altbayer, (…) und dieses Land, diese Land­schaft haben (…) mein Wesen und mein Werk mitge­prägt“. Orffs Thea­trum Mundi, sein „kleines“ und sein „großes Welt­theater“ umfasst zwölf Kantaten, neun Opern, drei Orato­rien, darunter ludi scae­nici, also Spiel­szenen wie die Carmina, Märchen­opern wie Der Mond, „Bairi­sche“ Tragö­dien und Komö­dien wie Die Bernauerin und Astu­tuli, Anti­ken­dramen wie Anti­gone, Ödipus und Prome­theus. Dazu das Schul­werk. Viele Jugend­werke wie die Debussy nahen Tanzenden Faune op. 21 wird Orff später als „deka­denten Dreck“ abtun und seinem Verleger schreiben: „Alles, was ich bisher geschrieben und Sie leider gedruckt haben, können Sie nun einstampfen! Mit Carmina Burana beginnen meine ‚Gesam­melten Werke‘!“

Kein anbie­dernder Klas­sikhit-Liefe­rant

Und sein Erfolg. Auch wenn sich hier alle Popu­la­rität konzen­trierte, ein sich anbie­dernder Klas­sikhit-Liefe­rant wurde Orff nicht. Firm im Bayer­la­tein müsste man schon sein, wenn man die Wort­ver­dre­hungen, Klang­reime und Zungen­bre­cher des „Gaglers“ (Gauk­lers) in Astu­tuli von 1953 verstehen will. Firm im Altgrie­chisch, wenn man die Hand­lung in Prome­theus nach­voll­ziehen will, auch wenn der Kompo­nist die Sänger vor der Urauf­füh­rung 1968 beru­higte: „Wenn Ihr mit dem Text nicht weiter­kommt, sagt ‚Kyriazi, Kyriazi‘ (der Name einer Ziga­ret­ten­marke). Das merkt keiner!“

Grabstein von Carl Orff in Andechs
Grab­stein von Carl Orff in , © Asiano

Große auffüh­rungs­tech­ni­sche Anfor­de­rungen stellt auch De temporum fine comoedia, Orffs apoka­lyp­ti­sche Vision vom Ende der Welt von 1973.

1982 starb Orff und wurde auf Bayerns „Heiligem Berg“ in Kloster Andechs beigesetzt. „Summus finis“ steht auf dem Grab, „Ende“ heißt das, aber auch: „das höchste Ziel“.

Seine dritte Ehefrau beschrieb ihn als „Genie und Dämon in einem“

Nicht wenige haben am Mythos Orff gekratzt. In ihrer Auto­bio­grafie Saturn auf der Sonne beschreibt Orffs dritte Frau, die Schrift­stel­lerin Luise Rinser, ihre Ehe mit dem „Genie und Dämon in einem“. 1954 hatten sie ein Anwesen in Dießen gekauft – heute Sitz der Carl Orff Stif­tung. „Als sie [die Schulden] abbe­zahlt waren, drängte mich das neue Paar hinaus. Buch­stäb­lich“, schrieb sie und meinte damit Orff und seine Sekre­tärin Lise­lotte Schmitz, die 1960 Orffs Ehefrau Nummer vier wurde.

„Mein Vater hatte Angst und besaß keine Bega­bung zum Märtyrer“ Godela Orff

Kritisch betrachtet wurde Orffs Haltung während des Dritten Reiches. Beson­ders objektiv und präzise gelang dies dem Musik­his­to­riker Fred K. Prie­berg (Musik im NS-Staat, 1982). „Mein Vater war kein Held“, schrieb auch Tochter Godela 1992 (Mein Vater Carl Orff und ich, 1992). „Er ging immer den konflikt­lo­seren Weg, auch in dieser bösen Zeit; er hatte (…) Angst. Er besaß keine Bega­bung zum Märtyrer. Das kann ich nicht als Schuld empfinden.“

Anrüh­rend die Szene im Prolog ihres Buches. Da fragt sie ihren Vater: „Was bist Du von Beruf?“ Und er antwortet: „Das siehst Du doch, ein Düpferl­scheißer.“ – „Aha“ sagt sie. „Verdienst du denn etwas damit?“ – „Vorläufig noch nicht. Aber wenn ich gestorben bin, wirst Du viel­leicht einmal ganz gut verdienen“. Und sie sagt: „Schad«, dass Du erst sterben musst.“

Carl Orff 1940
Carl Orff 1940, © Hanns Holdt

Lebens­daten Carl Orff

  • 10. Juli 1895 geboren in München
  • 1900 erster Klavier‑, Cello- und Orgel­un­ter­richt, erste Kompo­si­tion
  • 1909 Schlüs­sel­er­lebnis beim Besuch von Richard Wagners „Der flie­gende Holländer“
  • 1911 Orff schreibt rund 50 Lieder zu Texten von Hein­rich Heine, und anderen
  • 1912 Kompo­si­tion des ersten großen Chor­werkes nach Nietz­sches „Also sprach Zara­thustra“
  • 1913 bis 1914 Studium an der König­li­chen Akademie der Tonkunst in München
  • 191718 Kriegs­dienst
  • 191819 Kapell­meister in München, Mann­heim und Darm­stadt
  • 192122 Studium in München bei Hein­rich Kaminski
  • 1924 Grün­dung der „Günther-Schule München – Ausbil­dungs­stätte vom Bund für freie und ange­wandte Bewe­gung e. V.“ zusammen mit Doro­thee Günther
  • 193034 Erste Veröf­fent­li­chungen zum Orff-Schul­werk
  • 193536 Kompo­si­tion seiner berühmten „Carmina burana“
  • 1936 Sein „Einzug und Reigen der Kinder“ wird zur Eröff­nung der Olym­pi­schen Spiele in Berlin aufge­führt
  • 1937 Urauf­füh­rung der und welt­weiter Durch­bruch mit „Carmina burana“ in Frankfurt/​Main
  • 1939 Urauf­füh­rung der Märchen­oper „Der Mond“ in München
  • 1943–49 Urauf­füh­rungen seiner Bühnen­werke „Die Kluge“ (1943), „Cartulli Carmina“ (1943), „Die Bernauerin“ (1947) und „Anti­gone“ (1949)
  • 1943 Orffs Freund Kurt Huber, Mitbe­gründer der NS-Wider­stands­gruppe „Weiße Rose“, wird hinge­richtet
  • 1944 Orff wird von Hitler in die „Gott­be­gna­deten-Liste“ aufge­nommen und vom Wehr­machts- und Arbeits­ein­satz an der Heimat­front frei­ge­stellt
  • 1950–54 Heraus­gabe von fünf Bänden „Musik für Kinder“ zusammen mit Gunild Keetman
  • 1950–60 Leitung einer Meis­ter­klasse für musi­ka­li­sche und drama­ti­sche Kompo­si­tion an der Staat­li­chen Hoch­schule für Musik in München
  • 195556 Auszeich­nung mit dem Ehren­doktor der Univer­sität Tübingen, dem Orden „Pour le Mérite“ und der Ehren­dok­tor­würde der Univer­sität München
  • Ab 1961 Leitung des neuge­grün­deten Orff-Insti­tutes an der Akademie Mozar­teum Salz­burg
  • 1972 Sein „Gruß der Jugend“ wird zur Eröff­nung der Olym­pi­schen Sommer­spiele in München aufge­führt
  • 29. März 1982 Orff stirbt im Alter von 86 Jahren in München


Carl Orffs Carmina Burana in der NML
Carl-Off-Stif­tung

Orff-Zentrum München

Fotos: Kunstprojekt an der Carl-Orff-Grund- und Musikmittelschule in Dießen am Ammersee mit dem ortsansässigen Künstler Christian Wahl, mit freundlicher Genehmigung