Carl Orff
Tänze aus Worten
von Roland H. Dippel
5. Juli 2020
Extraordinär ist bis heute Carl Orffs kreativer Umgang mit Sprache. Der Bühnenvisionär trieb die Vernachlässigung von Melodie und Harmonik zugunsten von Deklamation und Rhythmus in unerhörte Extreme.
Die Vereinfachungen musikalischer Satztechniken hatte er bereits in Carmina burana (1937) kultiviert. Heute sind diese „Cantiones profanae“ ein unverzichtbarer Evergreen des Chor-Repertoires. Ansonsten aber bleibt es zum 125. Geburtstag Carl Orffs fast beunruhigend still. Still wie das betörende „Schuh-Schuhu“-Lied der Bauerntochter, mit dem sie den König in Orffs zweitbekanntestem Werk Die Kluge (1943) in den Schlaf singt. Langsame, bedächtig und andächtig wirkende Tonwellen der Sopranstimme auf gerundeten, sich noch nicht zu Worten bindenden Silben schaffen Ruhe. An solchen Stellen verstummt auch die Frage nach Alter, Herkunft und Dauer von Orffs musikalischem Material: Zeitlosigkeit in gewinnender Form.
„Löschs Licht aus, dann sind alle Weiber gleich!“
Aus „Die Kluge“ von Carl Orff
Orff kokettiert aber auch mit der verbalen Pranke und berauscht sich an deftig bis derben Aphorismen: „Löschs Licht aus, dann sind alle Weiber gleich!“ bellt ein Strolch in dem zwei Wochen nach der Niederlage von Stalingrad uraufgeführten Märchenspiel. Derartiges holte sich Orff aus Simrocks Spruchsammlung. Da verhielt er sich neben dem keineswegs prüden Bertolt Brecht, den er vertont hatte, wie ein archaischer Kobold im Kosmos von Bühnenwirkung, anspringender Menschlichkeit, musikalischer Stoßkraft und sprachlicher Attacke.
Orff berauscht sich an derben Aphorismen
Die Bernauerin (1947), von Orff noch während des Zweiten Weltkriegs als Spielplan-Alternative zu Hebbels Schauspiel begonnen, hatte um 1985 dank August Everding eine laute Erfolgsstory bei den Münchner Opernfestspielen und auf der Freilichtbühne am Roten Tor Augsburg, die trotz einer Serie in Wunsiedel und bei den Straubinger Agnes-Bernauer-Festspielen nicht nachwirkte.
Die Aufzeichnung der Wiener Volksoper mit der Schauspielerin Sunnyi Melles in der Titelpartie (1997) vermittelt einen Eindruck davon, welche Ausdrucksnuancen zwischen Natürlichkeit und Manierismus nötig sind, um das gern als „bayerische Volksoper“ missverstandene „bairische Stück“ in ein bewegendes Theater zu steigern.
„Wer dumm ist, bleibe daheim“
Aus „Astutuli“ von Carl Orff
Ein wichtiges Vermächtnis des Wortbeschwörers Carl Orff ist seine Rezitation des Stücks Astutuli (1953) für Schauspieler und Schlagwerk in einer Aufzeichnung durch den Südwestfunk 1958. „Wer dumm ist, bleibe daheim“ lautet ein ironisch wiederholter Vers in diesem Stoff über die Allzuschlauen und unverbesserlichen Neunmalklugen.
Sprache ist auch in Orffs von lebhaften Gesten begleitetem Vortrag das raue und lustvolle, aber nie zu geschmeidige Ereignis. Der Klang und dessen Formung sagen oft mehr als der Sinn von Worten. Diese Gewalt der Töne und Silben ist Orffs Alleinstellungsmerkmal. Deshalb wirken Orff-Aufführungen in Opernhäusern oft wie ein Kompromiss.
Das gilt sogar für das 1973 durch Herbert von Karajan bei den Salzburger Festspielen uraufgeführte Spiel De temporum fine comoedia (1973), in dem Orff das Weltende aus einer rein christlichen Betrachtung herausgehoben hatte.
Dieses Tanzen, Stampfen und Rattern mit Zunge und Zähnen steht im Widerspruch zum Sprechen heute
Der größte Verlust ist, dass sich keine von Orffs Griechentragödien Antigonae (1949), Oedipus der Tyrann (1959) und Prometheus (1968) nachhaltig im Repertoire etablieren konnte. Hundertprozentige Verständlichkeit gehörte nach Oedipus der Tyrann nicht mehr zu den für Orff wesentlichen Voraussetzungen im Theater. Sonst hätte er Aischylos« Prometheus, der zuletzt in der Kraftzentrale Dortmund zur Ruhrtriennale 2012 in einem dem Werk angemessenen Ambiente zur Aufführung gelangte, nie in altgriechischer Sprache vertont.
Während der monatelangen Proben mit Carlos Alexander, dem Interpreten der Uraufführung, ging es mehr um die Gestik als um den Sinn. Dieses Tanzen, Stampfen und Rattern mit Zunge und Zähnen steht in denkbar großem Widerspruch zum Sprechen heute, das möglichst resonanzarm auf präzisierende inhaltliche Aussage zielt.
Dionysische Laszivität und rhetorischer Übermut
„Das Mechanische, Pulsierende, Rücksichtslose in diesen Triolen hat keine Entsprechung in Catulls wiegendem Pentameter“, analysiert Wilfried Stroh, Professor für Klassische Philologie in München, Orffs Vertonung Catulli carmina (1943) und lobt Orffs eigenschöpferische Sprachkompetenz für Latein im Vorspiel, in dem sich Jungvolk immer heftiger umwirbt und bespringt: dionysische Laszivität in einer den meisten Hörern unverständlichen Sprache.
Pulsierende, universelle Weite von Sprachreichtum
Orff bewegt sich also im Widerstreit von metrischer Freiheit des Komponierens und sprachlicher Präzision, aber auch von rhetorischem Übermut und erfolgsorientierter Glätte. Für die Vertonungen der Sophokles-Tragödien Antigonae und Oedipus der Tyrann wählte er in der jungen Bundesrepublik die deutsche Übertragung von Friedrich Hölderlin. Mainstream-affiner ging es kaum, denn Hölderlins an inhaltlichen Freiheiten reiche Nachschöpfung galt als die „klassische“. Es ist also seine pulsierende, universelle Weite von Sprachreichtum, die heute die Auseinandersetzung mit Orff erschwert, obwohl dieser auch ohne Bühne großartige Effekte beinhaltet.
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