Tatiana Chernichka
Chopin-Erbe
von Attila Csampai
19. März 2018
Tatiana Chernichka hat eine besondere Beziehung zu den Etüden von Chopin: Ihre Mutter, ebenfalls eine Pianistin, führte beide Etüdenzyklen zum ersten Mal zusammenhängend auf.
Die in München lebende russische Pianistin Tatiana Chernichka hat eine besondere Beziehung zu den Etüden von Chopin: Ihre Mutter, ebenfalls eine Pianistin, die kurz nach ihrer Geburt starb, führte beide Etüdenzyklen zum ersten Mal überhaupt zusammenhängend auf – und zwar in ihrer Heimatstadt Novosibirsk. 2014 spielte Chernichka dann an gleicher Stelle beide Zyklen zu ihrem Andenken und produzierte 2016 in Brüssel eine Studioversion, die jetzt auf CD erschienen ist. Es ist eine ganze besondere, aus dem Ozean des nur Demonstrativen herausragende Interpretation des Doppelzyklus, die fast jedem einzelnen Stück existenzielle Bedeutung abtrotzt. In beiden Zyklen bevorzugt Chernichka drängende, flüssige Tempi, und doch gelingt es ihr, durch hochdifferenzierte Pedal-Sensibilität alles Effektvolle, alle technische Bravour von ihrer warm timbrierten, lyrisch-sanglichen Deutung abfallen zu lassen: Sie erzählt uns da eine zusammenhängende Geschichte in 24 tief empfundenen, innerlich glühenden Charakterbildern, wobei sie die massiven technischen Herausforderungen mühelos einbindet in einen Reigen flüchtiger Momente des Schönen, der Trauer, der Leidenschaft und der Verzweiflung: So schließt sich der Kreis in der pathetisch aufflammenden letzten c‑Moll-Etüde (op. 25, 12) als tragische Antwort auf den energischen Lebenswillen der allerersten C‑Dur-Etüde (op. 10, 1). In Chernichkas schlüssiger Deutung wirkt dieses bittere Ende erschütternd und tröstlich zugleich.