Igor Levit

Igor Levit

Ein faszi­nie­render Klar­traum

von Walter Weidringer

18. Dezember 2023

Das Album „Fantasia“ – eine emotionale Auseinandersetzung von Igor Levit mit Bach, Liszt, Berg und Busoni. Klare Kante für das Fantastische.

„Ich bin ein Wesen leichter Art,/ Ein Kind mit tausend Launen,/ Das Niedres mit dem Höchsten paart,/ ’s ist wirk­lich zum Erstaunen“, erklärt sie in perso­ni­fi­zierter Gestalt bei Ferdi­nand Raimund, während sie, so besagt die Regie­an­wei­sung, „mit ausge­s­prei­teten iris­far­bigen Flügeln auf rosigem Nebel“ hernieder sinkt: „Kurzum, ich bin ein Kraftgenie,/ Sie sehn in mir die Phan­tasie.“

Die Fantasie als musi­ka­li­sche Gattung will quer durch die Jahr­hun­derte sich von herkömm­li­chen formalen Fesseln lösen, auch wenn viele Kompo­nisten dann zwischen mehr oder minder freier Impro­vi­sa­tion und ausge­klü­gelten „tausend Launen“ dann doch gern einmal altbe­kannte Konturen durch­scheinen lassen. „Fantasia“ nennt Igor Levit auf gut Poly­glott seine Doppel-CD, die durchaus „zum Erstaunen“ geraten ist.

Vier Werk­paa­rungen spielen dabei eine entschei­dende Rolle, auch wenn sich nicht behaupten ließe, der Pianist hätte dabei wirk­lich „Niederes“ neben einige kapi­tale Stücke der Klavier­li­te­ratur des 18., 19. und 20. Jahr­hun­derts gestellt – aber doch Kürzeres, Klein­for­ma­tiges. Je zweimal Bach, Liszt, Berg und Busoni umfasst das Programm, wobei sich rasch heraus­stellt, dass nicht nur das Fantas­ti­sche die Werk­folge verbindet, sondern auch das Chro­ma­ti­sche – und das wech­sel­volle Verhältnis zur ehrwür­digen Gattung der Sonate.

Ferruccio Busonis Fantasia contrappun­tis­tica ist inso­fern und auch von der Dauer her das zentrale Opus. Frei und streng zugleich, ist das riesen­haft-spiri­tu­elle Werk eine zwölf­tei­lige Huldi­gung an Johann Sebas­tian Bach, indem es in seinem Kern den unvoll­endeten Contra­punctus XIV der Kunst der Fuge (mit dem dort als Kontra­punkt einge­führten, chro­ma­ti­schen B‑A-C-H-Motiv) glorios ausar­beitet. Man kann es sich als pracht­vollen Hoch­altar vorstellen, entwi­ckelt aus einer frag­men­ta­ri­schen Reli­quie. Igor Levit erweist sich dabei, genau wie im übrigen Programm, keines­wegs als „Kraft­genie“ ohne Maß und Ziel, sondern ganz im Gegen­teil als beson­ders über­legt zu Werke schrei­tender Inter­pret. Er knetet nämlich das, was unter impul­si­veren Händen auszu­ufern droht, mit metho­di­scher Strenge durch – und entwi­ckelt genau daraus Größe. Busoni wird so zu einer Art faszi­nie­rendem Klar­traum.

Auch Bachs Chro­ma­ti­sche Fantasie und Fuge d‑Moll BWV 903 fällt etwa bei den Ketten von Arpeggio-Akkorden nicht in ein Klang­wolken-Unge­fähr zurück, sondern Levit model­liert sie zu rhyth­misch so klaren Struk­turen, dass man sie zu Papier bringen könnte. In Franz Liszts einsätzig-viel­glied­riger h‑Moll-Sonate beein­druckt gleich­falls die über­le­gene Dispo­si­tion: Kontrast und Fluss, Ruhe­stre­cken und Höhe­punkte, arti­ku­la­to­ri­sche Prägnanz und spar­samer Pedal­ge­brauch wirken fein­me­cha­nisch zusammen. Das Spon­tane muss dabei notge­drungen etwas ins Hinter­treffen geraten: Live-Nerven­kitzel lässt sich vor Studio-Mikro­fonen nur schlecht simu­lieren. Apropos: An den Fortis­simo-Spitzen kann der Klavier­klang, viel­leicht aufnah­me­tech­nisch bedingt, eine Prise Härte nicht verleugnen. Aber das ist eine Margi­nale ange­sichts etwa einer bei aller Genau­ig­keit auch expressiv durch­wirkten Sonate Alban Bergs. Zu alldem bildet die Air aus Bachs D‑Dur-Orches­ter­suite den sanften, durchaus roman­tisch verbrämten Einstieg, und Liszts Bear­bei­tung von Schu­berts unheim­li­chem „Doppel­gänger“ verar­beitet bekannt­lich ein eigenes, dem B‑A-C‑H nicht unähn­li­ches Vierton-Motiv. Was Bergs kurzes, frühes h‑Moll-Klavier­stück an Reife noch vermissen lässt, kompen­siert Busonis viel­leicht film­mu­si­ka­lisch moti­vierte Nuit de Noël mit dem unheim­li­chen Einschlag dieser merk­wür­digen Folge von Weih­nachts­szen­chen: fantas­tisch!

Fotos: Felix Broede