Christa Ludwig

»Mit 90 habe ich das Recht, faul zu sein«

von Jens Laurson

8. März 2018

Christa Ludwig zum 90sten über das große Unglück eines reifenden Sängers, Stricken gegen Nervosität und den Luxus, den Tag im Morgenmantel zu verbringen. 2021 ist die große Sängerin mit 93 Jahren verstorben.

CRESCENDO: Liebe Frau Ludwig, die ganze Aufmerk­sam­keit, die Ihnen zum 90. Geburtstag wider­fährt – ist das ange­nehm oder geht Ihnen das auf die Nerven?

: Ich sag Ihnen was: Die Tata­sache, dass man sich an mich erin­nert, obwohl ich jetzt 90 bin, auch dass ich noch nicht gestorben oder in der Versen­kung verschwunden bin, das finde ich schön! Aber jeden Tag Inter­views sind eigent­lich lästig. Ich muss mich anziehen, mir die Haare machen, mich schön zurecht­ma­chen – das ist lästig, aber schön. Also: Ich freue mich, dass Sie da sind.
Hin und wieder aller­dings schlunze ich richtig herum. Dann ziehe ich mich nicht an, sondern bleibe im Morgen­rock. Das macht mir unge­heure Freude. Früher, als ich im Beruf war, konnte ich das nicht. Aber jetzt habe ich das Recht, faul zu sein, und kann den ganzen Tag im Morgen­rock herum­laufen, wenn ich weiß, dass keiner kommt. Das ist etwas Wunder­bares.

Sie standen 50 Jahre auf der Bühne, was sicher nicht immer ganz einfach war …

Karriere ist nicht nur „nicht ganz einfach“, sie ist über­haupt nicht einfach. Man gibt so vieles auf. Man geht mit Scheu­klappen durch die Welt, darf sich nicht erkälten, nicht mal den Ansatz eines Schnup­fens bekommen! Es fängt im Kopf an. Man hat perma­nente Angst. Schließ­lich heißt es bei den Frei­be­ruf­lern nicht von ungefä: „Koa Musi, koa Göd.“ Da ist diese ewige Angst, immer topfit sein zu müssen. Wie weiß ich, ob ich am 5. April in drei Jahren bei Stimme bin? Aber ich unter­schreibe einen Vertrag und ich muss an diesem Tag gut bei Stimme sein.

Christa Ludwig

»Eine schöne Stimme ist immer eine schöne Stimme.«

Genießen Sie, das jetzt alles hinter sich zu haben?

Ja. Ich trauere meinem Beruf über­haupt nicht nach. Ich finde das herr­lich! Nachdem ich das letzte Mal an der Wiener Oper gesungen habe, am 14. Dezember 1994 (Klytäm­nestra in « Elektra – Anm. d. Redak­tion), bin ich am nächsten Tag – es war eiskalt und hatte geschneit – hier in mit offenem Kragen durch die Kärnt­ner­straße gelaufen und wollte mich einmal in aller Ruhe verkühlen. Aber es ist mir bis heute nicht gelungen, einen Schnupfen zu bekommen.

In diesen 50 Jahren hat sich im Gesang viel getan, was Stil und Ästhetik betrifft. Hat sich Ihre Meinung davon, was Sie gerne hören und für schön empfinden, in der Zeit geän­dert?

Nein, ich glaube nicht. Eine schöne Stimme ist immer eine schöne Stimme. Nur sehe ich bei den jungen Sängern, die ich manchmal unter­richte, dass sie alle gleich­förmig singen. Ich könnte die vielen Soprane oder Mezzo­so­prane – meis­tens habe ich Frauen im Unter­richt, die Männer gehen zu den Männern und die Frauen zu den Frauen, das hat sich leider so einge­bür­gert! – nicht unter­scheiden. Früher konnte ich zwischen den Stimmen unter­scheiden. Die machten drei Töne, und ich wusste, wer es ist. Heute ist das nicht mehr so, und ich weiß nicht genau, was da los ist. Sie singen heute tech­nisch meist sehr gut, zumin­dest fehlerlos – und ihnen wird dauernd gesagt: „Du darfst dies nicht machen, du darfst jenes nicht machen.“ Man hat damals die Stimmen auch an ihren Fehlern erkannt und fand sie trotzdem toll. Heute müssen alle gleich­mäßig gut singen, was zuweilen auf Kosten des Charak­ters geht.

Christa Ludwig

»Heute müssen alle gleich­mäßig gut singen, was zuweilen auf Kosten des Charak­ters geht.«

Ist nicht auch eine Natür­lich­keit hinzu­ge­kommen? Wenn man sich heute zum Beispiel eine anhört, klingt das anders, als was man heut­zu­tage gewohnt ist.

Erika Köth habe ich nicht mehr im Ohr, aber ich erin­nere mich an eine Begeg­nung. Ich war 18 Jahre alt, sie ein biss­chen älter als ich (Jahr­gang 1925 – Anm. d. Redak­tion). Wir waren zusammen zu einem Wett­be­werb beim Rund­funk in gekommen. Um neun Uhr morgens wurden alle bestellt. Das war eine Zeit, in der ich unent­wegt gestrickt habe, weil ich beim Stri­cken meine Nervo­sität durch die Finger wegbe­kommen habe. Und Erika Köth sagte: „Christa, du machst mich ganz nervös mit der ewigen Stri­ckerei.“ Ich habe aller­dings immer schön weiter­ge­strickt und kam erst abends um sechs Uhr mit dem Singen dran. Also habe ich wirk­lich lange gestrickt. Und wir gewannen beide einen Preis!

… und Sie hatten einen Pull­over.

Ha! Ja, fast.

Wenn Sie an Sänger denken, denken Sie sofort an Opern­sänger?

Ja, denn es gibt keine Lieder­sänger mehr. Es gibt viele Sänger, die Lieder singen, aber das müssen noch lange keine Lieder­sänger sein. Das ist ein Unter­schied. Zuge­ge­be­ner­maßen gehe ich kaum noch in Lieder­abende. Aber wenn ich sehe, wie Opern­sänger Lieder­abende geben, denke ich, dass etwas verkehrt ist.

Das Video zum Inter­view

Da liegt das Problem oft schon an der Umge­bung. Wenn ich in einem großen Opern­haus einen Lieder­abend gebe, ist das zum Schei­tern verur­teilt, oder?

Ich habe in der Metro­po­litan Opera vor fast 4.000 Menschen die Winter­reise gesungen, immerhin. Und die fanden es schön.

Christa Ludwig

»Die Stille ist etwas Wunder­bares. Ich höre die Stille!«

Aber leidet nicht die Inti­mität eines Lieder­abends in einem fußball­sta­di­ongroßen Opern­haus wie der Met?

Die Inti­mität eines kleinen Saales macht Angst. Es ist viel schwie­riger, vor 20 oder 10 Leuten zu singen als vor 4.000. 4.000 sind eine unbe­kannte abstrakte Masse. Aber Einzelne, die man viel­leicht sogar kennt, und die ganz nahe vor einem sitzen – da bekommt man fürch­ter­liche Angst. Gott sei Dank haben diese Opern­häuser eine gute Akustik, da kann man so leise singen wie möglich. Ich erin­nere mich an einen Lieder­abend in der Avery Fisher Hall (inzwi­schen Geffen Hall – Anm. d. Redak­tion). Meine liebe Kollegin war dort in einem voran­ge­gan­genen Lieder­abend – ich glaube von Birgit Nilson – gewesen und sagte mir: „Christa, wenn du den Lieder­abend dort singst, darfst du nicht meinen, dass du dort lauter singen musst. Das kleinste Piano ist bis ganz hinten hörbar.“ Tatsäch­lich konnte ich in der Metro­po­litan pianis­simo singen, und es war zu hören.

Sie haben erwähnt, dass Sie nur noch wenig Musik hören, im Konzert und aus der Konserve. Warum?

Wissen Sie, seit meiner Kind­heit höre ich nur Musik. Von morgens bis abends nur Musik. Und wenn Sie dann mal nichts zu singen haben, müssen Sie etwas lernen oder sich einsingen. Da habe ich einmal genug gehabt von Musik. Und jetzt liebe ich die Stille. Ich liebe es, einem Vogel zuzu­hören, wenn er „tirrili“ macht. Oder wenn er gar nichts macht. Die Stille ist etwas Wunder­bares. Ich höre die Stille!
Kennen Sie diese wunder­bare kleine Geschichte von , „Doktor Murkes gesam­meltes Schweigen“? Der hat sich aus den Bändern im Radio die ganzen Pausen heraus­ge­schnitten und sie zu Hause laufen lassen. Wunderbar! Sehen Sie, so geht’s mir auch: Ich lasse nur noch die Pausen laufen. Aber ich höre schon hin und wieder Musik. Neulich war ich in Bruck­ners Neunter mit den Phil­har­mo­ni­kern hier in Wien. Es war eine Stern­stunde, und ich war von Musik erfüllt. Da habe ich dann aber für eine Woche genug Musik in mir.
Man muss sie auch verar­beiten. Ein Sänger zum Beispiel muss einen Text und die Musik ja erst mal begreifen, bis er sie wirk­lich wieder­geben kann. Das ist ein langer Prozess und ein ewiges Lernen. Und wenn man älter wird, ändert sich der Blick auf Text, Musik und Inter­pre­ta­tion. Das ist wunder­schön. Da kommt es dann darauf an, wie reif man ist. Für die meisten kommt die Reife viel später als die Stimme, und das ist das Unglück eines Sängers: Der Tonus der Stimm­bänder ist nicht mehr da, aber man weiß genau, wie man’s tut. Das ist wie bei einem Eunu­chen: Man weiß, wie man es macht, aber man kann es nicht mehr. Das ist unser großes Unglück!

Fotos: Roman Litschke / Amalthea Verlag