Christian Gerhaher
Die Imagination der Discokugel
14. Dezember 2021
Christian Gerhaher beeindruckt mit seinem unmanirierten Gesangsstil und seinen feinen Nuancierungen. Mit dem Pianisten Gerold Huber nahm er sämtliche Lieder von Robert Schumann auf.
CRESCENDO: Herr Gerhaher, Sie sind gerade in London, wo Sie den Giorgio Germont in La Traviata singen. Danach werden Sie sich bald wieder dem Lied widmen. Was sind für Sie die größten Unterschiede zwischen den beiden Gattungen?
Christian Gerhaher: Oper und Lied unterscheiden sich in so vielen Hinsichten! Ein entscheidender Unterschied aber ist für mich die Situation des Singens im Theater hinter einem Proszenium. Ich empfinde das als einen imaginären Bildschirm, der als Illusions[1]chranke wirkt – auch wenn das natürlich allen Beteiligten bewusst ist. Beim Lied gibt es diese Schranke so nicht. Man ist als Darsteller genauso Teil des Publikums wie das Publikum selbst, und man nimmt teil an der Rezeption eines Kunstwerks. Daher geht es mir beim Lied oft so, dass ich Dinge zu verwirklichen versuche, von denen ich mir bewusst bin, dass sie beim Publikum anders ankommen können. Ich glaube, diese Vielfalt der möglichen Bedeutungen wird in der Oper eher vermieden und im Lied geradezu gesucht.
»Die Färbung der Stimme hat eine hohe interpretatorische Bedeutung.«
Inwiefern unterscheidet sich das Singen mit einem Orchester von dem mit Klavier?
Natürlich gibt es Schwierigkeiten der Dynamik: Kommt man da durch, ist man laut genug und so weiter? Diese Fragen kennt jeder Sänger, sogar die ganz großen Stimmen haben da manchmal Probleme. Aber die größte Schwierigkeit beim Orchester ist meiner Ansicht nach die Vielfarbigkeit des Orchesterklangs. Das Klavier ist so monochrom, wie ein Instrument nur sein kann. Vielleicht könnte man sogar sagen, das Klavier ist das einzige Instrument, das keine Register hat. Der Sänger hingegen hat ein höchst farbiges Instrument, und die Färbung der Stimme hat eine hohe interpretatorische Bedeutung, die in Konkurrenz mit der Vielfarbigkeit des Orchesters tritt.
»Das Kunstlied entsteht aus der Kombination eines monochromen Instruments mit einer polychromen Stimme.«
Das heißt, bestimmte Klangfarben können Sie in der Oper manchmal nicht benutzen, weil Sie dann in Konkurrenz mit dem Orchester treten würden?
Ja, und die Farbigkeit kann natürlich auch dynamische Bedeutung bekommen: Wenn ich beispielsweise als Sänger in einen Klavier[1]klang eintauche, dann heißt das nicht, dass ich dynamisch „aufgebe“, sondern es bedeutet, dass ich mich als Sänger mit meiner eigenen Farbigkeit in einen Klavierklang einfüge, sodass es zu einem Gesamtklang kommt, der Bedeutung trägt. Beim Orchester ist es sehr schwierig, dass man bei einem solchen „Eintauchen“ in den Orchesterklang noch vernehmbar ist. Das ist natürlich ein riesiges Problem, vor allem bei Orchesterliedern. Ein Orchesterlied ist insofern – positiv ausgedrückt – fast so etwas wie die Quadratur des Kreises. Wenn man es negativ ausdrücken möchte, dann wäre es die Perversion des Konzepts des Kunstliedes. Ich glaube, das Kunstlied ist etwas, das aus der Kombination eines monochromen Instruments mit einer polychromen Stimme entsteht. Damit wird die nötige Intimität erst möglich, die beim Zusammenspiel mit dem Orchester nur unter großen Schwierigkeiten erreichbar ist.
Männerstimmen nutzen im Zusammenspiel mit dem Orchester oft den sogenannten „Sängerformanten“, um in einem Frequenzbereich kräftige Obertöne zu erzeugen, in denen das Orchester nicht so stark ist. Können Sie im Lied auf den verzichten?
Es gibt in der Oper – das ist natürlich nur eine Theorie von mir – das Phänomen, dass die Vielfarbigkeit der Stimme geradezu vermieden wird. Auch in der Ausbildung wird häufig so eine Allgemeinfarbe, ein relativ dunkles Stimmwesen erschaffen, welches schon an sich Pathos vermittelt, unabhängig vom Inhalt. Ich formuliere das ein bisschen überspitzt und auch nicht freundlich, aber: Was soll das sein, Pathos vermitteln, wenn man noch gar nicht weiß, worum es geht? Jedenfalls nimmt auch die Tragfähigkeit ab, wenn die Stimme dunkler gefärbt wird. Um das zu kompensieren, muss man dann „in die Maske singen“. Das heißt, man hat eine dunkle Stimme und macht sie heller, indem man sie am vorderen Gaumen platziert und dadurch den Sängerformanten quasi erzwingt. Ich kenne das auch von mir selbst, und wenn ich nach einer Opernserie zurückkehre zum Lied, muss ich versuchen, dieses Maskensingen so schnell wie möglich wieder abzulegen.
Ich habe mir in der Vorbereitung auf dieses Gespräch noch einmal Ihre Aufnahme von Schumanns Der Soldat angehört. Hier wird eine grauenhafte Situation gezeichnet: Ein Soldat muss seinen besten Freund in einem Standgericht erschießen. Wie gehen Sie beispielsweise an so ein extremes Lied heran, wie erschließen Sie sich den Inhalt und übersetzen ihn in Klang?
Nach und nach: Ich fange rein musikalisch an, dabei sind natürlich die Aufführungsanweisungen des Komponisten hilfreich, weil die ja wissen, was sie wollen. Die Hereinnahme des Textes als Interpretationsmittel in dem Sinne, dass man den Text mit Vibrato oder Stimmfärbung plastifiziert, ist bei mir zeitlich eher nachgeordnet. Stimmfärbung ist übrigens etwas anderes als die Vokalfärbung, die sehr exakt bleiben muss. Der Soldat ist eines von den Liedern, die in einem der am meisten konzeptionell wirkenden Zyklen Schumanns stecken, dem Opus 40. Der beginnt mit dem idyllischen Märzveilchen, aber bereits an dessen Ende kommt eine kurze Verunsicherung mit der Zeile: „Und Gott sei gnädig dem jungen Mann.“ Wenn doch alles in Ordnung ist, warum muss Gott dann gnädig sein? Dann folgt der Muttertraum, der schon eine große Grausamkeit birgt. Der weitere Abstieg zum Soldaten ist natürlich sehr stark, aber danach folgt etwas eventuell noch Schlimmeres, nämlich Der Spielmann, der bei der Hochzeit seiner Geliebten spielen muss – seine Geige zerbricht, und er rammt sich die Bruchstücke ins Herz. Und am Schluss des Zyklus kommt auf einmal ein vollkommen harmloses griechisches Volkslied. Aber diese Harmlosigkeit, die sich in diesem humorvollen, fast anakreontischen Lied offenbart, die ist angesichts dieser schrecklichen negativen Klimax, die davor abgerollt wurde, überhaupt nicht mehr möglich. Ich glaube, in diesen Kontext muss man den Soldaten stellen, um zu sehen: Welche Funktion hat dieses Lied, was möchte ich mit diesem Lied erreichen?
Wir sprachen vorhin über die illusionäre Abmachung in der Oper. Beim Lied gibt es auch eine illusionäre Klausel, die jeder versteht, nämlich dieses lyrische Ich, das bei den meisten Liedern auftritt. Und der Sänger, der dieses lyrische Ich mit seiner Stimme formuliert, der steht auch noch frontal zum Publikum, sodass das Publikum das lyrische Ich naheliegenderweise mit dem Sänger identifiziert. Aber genauso, wie das Publikum weiß, dass die Opernhandlung Fiktion ist, genauso weiß es, dass diese Identifikation im Lied illusionär ist. Daher ist es meine künstlerische Grundannahme und mein Credo, dass ich versuche, meine eigene Persönlichkeit aus der ganzen Sache so weit wie irgend möglich rauszuhalten, und größte Sachlichkeit im Herangehen ist meiner Ansicht nach kein schlechter Ratschlag.
»Das Kunstlied ist ein hoch fragiles Kunstwerk.«
Das Kunstlied ist für viele, auch für ansonsten kunst- und musikinteressierte Menschen, eine eher fremde und schwer zugängliche Gattung. Kann man dagegen etwas tun?
Grundsätzlich ist das Lied etwas, das schwer vermittelbar ist. Die Situation mit dem lyrischen Ich, die ich beschrieben habe, wird von vielen eventuell doch sehr unmittelbar ernst genommen. Da gibt es dann Zuhörer, die sagen: „Das ist mir alles zu süßlich und emotional.“ Aber eigentlich ist das Kunstlied ein hoch fragiles Kunstwerk, welches sich durch die vorher beschriebene lyrische Indifferenz einem klaren Zugriff grundsätzlich entzieht und insofern eine eher abstrakte Kunst ist. Mit Süßlichkeit hat das Lied meiner Ansicht nach daher kein Problem. Aber es gibt manchmal eine Betulichkeit und Süßlichkeit in der Darstellungsform, ein Baden in Gefühlen, das viele Leute abschreckt, und das verstehe ich dann ehrlich gesagt sehr gut. Natürlich geht es auch nicht, wie Eduard Hanslick es versucht hat, dass man sich dem Lied ohne Emotionalität und sogar ohne inhaltliche Auseinandersetzung mit Emotionalität nähert. Ich glaube, das Problem ist die Verquickung von Emotionalität und persönlichem Empfinden oder eigener Lebenssituation im Sinne von Sentimentalität.
Es gibt ja Versuche, Lieder szenisch umzusetzen oder durch visuelle Eindrücke zu erweitern, zu verstärken. Wäre das für Sie ein Kategorienfehler?
Eigentlich schon, muss ich sagen, aber in der Kunst ist jeder Fehler auch interessant, insofern möchte ich mich dem nicht verschließen. Ich habe auch manchmal Ideen für Illustrationen. Ein Beispiel: In Opus 49 bringt Schumann drei balladenartige Lieder zusammen, die für mich wie eine Bildfolge sind. Das erste sind die Grenadiere, die aus Russland zurückkehren. Der eine sagt: Du, wenn ich jetzt sterbe, dann musst du mich trotzdem unbedingt nach Hause bringen – er soll also von Russland bis Frank[1]reich den Toten hinter sich herschleppen! –, damit ich noch einmal aus dem Grab hervorreiten kann, um Napoleon zu schützen. Diese Szenerie hat schon viel sarkastischen Humor, außerdem erklingt dazu die Marseillaise. Ich sehe da nichts Patriotisches, was diesem Lied oft beigemischt wird, sondern ich sehe es immer im Zusammenhang mit dem, was danach kommt: Da sind dann die beiden feindlichen Brüder, die sich wegen Gräfin Laura gegenseitig erstechen. Und am Schluss kommt noch die Nonne, die unter einem roten Rosenkranz steht und in der Ferne eine Hochzeit sieht. Dort steht die Braut unter einem weißen Rosenkranz, und sie ist von der bevorstehenden Hochzeitsnacht und dem Tanz so aufgeregt, dass sie ein rotes Gesicht hat. Das Gegenteil spielt sich bei der Nonne ab, die mit einem vor Neid weißen Gesicht unter einem roten Rosenkranz steht. Noch dazu wird die Nonne zuerst mit einem Weitwinkel eingefangen, dann schaut man mit einem Teleobjektiv zur Hochzeitsgesellschaft und schwenkt dann zurück zur Nonne, wobei das Lied auf der fünften Stufe stehen bleibt, also das Lied und sogar der gesamte Zyklus bleiben unaufgelöst. Das hat so etwas irrsinnig Komisches und Bildhaftes, dass ich mir denke, eine Bebilderung beispielsweise durch einen Comic im Hintergrund wäre wunderbar.
»Mit der gefühligen Geselligkeit im Wohnzimmer hat das Lied nichts zu tun.«
Sie haben einmal in einem Interview gesagt, Sie möchten niemals An die Musik von Schubert öffentlich singen. Warum nicht?
Weil ich diesen Text so entsetzlich finde und eine Hymne ans eigene Tun so absurd und uninteressant. Es ist ein Lied ohne inhaltlichen Belang. Sie kennen sicher das Moritz-von-Schwind-Bild von der Schubert-Gesellschaft, diese Schubertiade-Situation. Ich muss sagen: Genau diese Situation der Liedrezeption ist mir ein Graus. Ich finde die Schubertiaden mit ihrer kleinräumigen Nostalgie und Gefälligkeit unerträglich. Der geistige Aspekt des Liedes, der mich besonders interessiert, wird da total gekillt.
Was wäre denn Ihre ideale Aufführungssituation, wenn es die Schubertiade-Situation nicht ist?
Ideal möchte ich nicht sagen, aber ich habe eine Vorstellung, wie das Lied funktioniert: ausgehend von der Situation, dass wir kein Proszenium, keinen Bühnenkasten oder Ähnliches haben, sondern dass wir mitten im Raum stehen, beispielsweise auch noch bei einer Querbestuhlung. Das heißt, Sänger und Pianist sind mitten unter den Leuten. Trotzdem ist es eine Konfrontation, das ist ja klar. Wir sind Darsteller, die anderen rezipieren nur, aber beide haben eine interpretative Rolle. Deswegen diese Platzierung der Darsteller im Raum. Aber es müsste ein großer Raum sein, denn mit der gefühligen Geselligkeit im Wohnzimmer hat das Lied nichts zu tun.
Ich sehe dann in diesem Raum immer noch eine Discokugel. Die vielen Spiegel auf der Discokugel beugen das Licht in viele Richtungen, und so sehe ich auch den Gedanken des Liedes. Es ist eine mögliche Bedeutung in jedem Lied und in jedem Zyklus, und die versuchen wir zu verstehen, aber die Richtung dieses Gedankens, die ist immer ein bisschen anders. So ist die Rezeption einer im Raum stehenden Wahrheit immer nur teilweise und immer etwas anders möglich. Wir sprachen zu Beginn über den imaginären Bildschirm in der Oper, der aus allen Richtungen gleich gut zu betrachten ist. Die Discokugel wäre mein Gegenbild für das Lied.
Weitere Informationen zu der Schumann-11-CD-Box unter CRESCENDO.DE
Auftrittstermine und weitere Informationen zu Christian Gerhaher unter: www.gerhaher.de
Mehr zur Geschichte des Liedes finden Sie unter: CRESCENDO.DE