Christoph Hein
Deutsch-deutsche Wirtschaftswunder-Albumblätter
von Roland H. Dippel
28. Juli 2023
Christoph Hein lässt in seinem Roman »Unter Staub der Zeit« Berlin im deutsch-deutschen Aufrüsten aus der ungewöhnlichen Perspektive jener erleben, die von den Wirtschaftswunderjahren nicht profitierten.
Mit diesem Roman beweist Christoph Hein, dass er doch mehr Epiker als Dramatiker ist. Denn vieles muss man sich zu der episodischen Schul- und Internatsgeschichte aus der Mitte des letzten Jahrhunderts dazu denken. Unterm Staub der Zeit spielt in den Jahren vor dem Bau der Mauer, als man in Berlin noch leichter zwischen West und Ost switchen konnte, und danach. Diese Coming-of-Age-Geschichte des jungen Daniel reiht sich aus Stationen eines Gymnasiastenlebens: Kameradschaften, erste Job-Erfahrungen, das erste Date, eine éducation érotique und die unfreiwillige Rückkehr dorthin, wo Daniel vieles von dem, was er gelernt hat, nicht brauchen kann und deshalb vieles neu lernen muss. Denn Daniel und sein Bruder David sind Kinder eines jener ostdeutschen Akademiker, deren Nachwuchs in der jungen DDR kein Abitur machen und somit nicht studieren durfte. Die Klassenmauern sollten zugunsten der unteren Schichten durchbrochen werden. Deshalb kamen bis 1961 Kinder akademischer Eliten der DDR von Ost nach West.
Hein, der belletristische Chronist der letzten 70 deutsch-deutschen Jahre malt Episoden, in denen man Erbsensuppe und Bier zu riechen, das Arbeitslicht der legendären Vagantenbühne zu sehen glaubt. Bis zur Rückkehr der Brüder fordert und verführt Hein Lesende, die jeweils andere Seite der beiden politischen Zonen mitzudenken. Nostalgie kommt nicht auf – trotz herzlicher, suggestiver und lakonischer Skizzen aus dem Berliner Leben, das schon in den späten 1950er-Jahren für einige arm und für viele sexy war. Wenn es an den sich verdichtenden Bürokratie-Apparat der DDR geht, hat das nach Heins Vorfrühlingsfarben für Westberlin den Charakter eines grauen Epilogs. Hein verwebt in die Schlaglichter der Romanhandlung Konstellationen seiner eigenen Biografie. Vielleicht liegt es daran, dass Unterm Staub der Zeit wie eine nachgedunkelte Foto-Serie und nicht wie ein sich selbst erklärender Dokumentarfilm wirkt. Auf alle Fälle erlebt man Berlin im deutsch-deutschen Aufrüsten aus der ungewöhnlichen Perspektive jener, die von den Wirtschaftswunderjahren nicht profitierten und diese trotzdem hautnah durchlebten.