Claude Debussy
Traumentrückter Einzelgänger
von Ruth Renée Reif
15. März 2018
Mit Claude Debussy begann in der abendländischen Musik das 20. Jahrhundert. Am 26. März 2018 jährt sich sein Todestag zum 100. Mal.
Pierre-Laurent Aimard fühlte sich bereits in früher Jugend überwältigt von Debussys Musik. Martha Argerich hatte als Kind seinen Namen „Claude Achille“ über dem Bett hängen. Sie nennt Debussy ihren Lieblingskomponisten. Das gilt auch für Leif Ove Andsnes. Er bekennt sich zur „Freude am Klang“ und zum Experiment.
Debussy veränderte die französische Musiksprache. Er begeisterte sich für alles Neue und Unbekannte. War er anfangs von der Verehrung für Wagners Musik durchdrungen, so schlug diese bereits beim Tristan seiner zweiten Bayreuth-Reise in Enttäuschung um. Was ihn stattdessen faszinierte, waren die Klänge der chinesischen, japanischen, javanischen und annamitischen Orchester, die er ebenso wie den andalusischen Cante jondo auf der Pariser Weltausstellung 1889 hörte. Die Ursprünglichkeit jener Musikarten beschrieb er als wohltuenden Gegensatz zum „auftrumpfenden Stil des Bayreuthers“.
Aus Leidenschaft für Exotik und den Japonismus, der damals die Kunstszene beherrschte, legte er sich eine Sammlung japanischer Holzschnitte zu. Die intensiven Farben und klaren Linien regten seine musikalischen Visionen an. Für Dietrich Fischer-Dieskau, der über Debussy und seine Welt eine Biografie verfasste, ist es die „rätselvolle Fertigkeit“, fremde Musik ohne Bruch in die eigene eingehen zu lassen, die aus Debussy „einen bis heute unverändert modernen Komponisten“ macht.
Obgleich er Zeit seines Lebens ein einsamer Einzelgänger blieb, suchte er die Bekanntschaft bildender Künstler und Dichter. Er führte das Leben eines Bohemiens, verbrachte viele Stunden in Cafés und gab sich dem Nachtleben hin. „Prinz der Dunkelheit“ nannten ihn seine Gefährten. „Wir sahen ihn mit düsterer Miene ankommen, in eine große, traurige Kapuze eingewickelt“, erzählte Léon-Paul Fargue. Ungewöhnliche Menschen zogen Debussy an. So verband ihn ein tiefes, wenn auch für viele unergründliches Verhältnis mit Erik Satie. Er half ihm, seine kompositorischen Ideen umzusetzen und widmete ihm das Buch der Kantate La Damoiselle élue: „Für Erik Satie, den mittelalterlichen und sanften Musiker, der sich in dieses Jahrhundert verirrt hat, zur Freude seines ihm herzlich zugetanen Claude – A. Debussy, 27. Oktober 1892.“
Das Jahr war bedeutsam für Debussy. Er wurde 30 Jahre alt, sah Maurice Maeterlincks Drama Pelléas et Mélisande auf der Bühne und begann, Stéphane Mallarmés Gedicht zu vertonen. 1894 erklang in Paris Prélude à l’après-midi d’un faune. Es war Debussys erstes orchestrales Meisterwerk, und man nannte es das „Manifest des musikalischen Impressionismus“. Debussy malte mit seiner Musik die Träume und Begierden, die den Faun in der nachmittäglichen Schwüle heimsuchen. 1912 inspirierte das Werk Vaslav Nijinsky zu einem Ballett neuer Tanztechniken.
1902 erfolgte an der Opéra Comique in Paris die Uraufführung von Pelléas et Mélisande. Sie bescherte Debussy einen Skandal und Ruhm. Eine unübersehbare Zahl an Musikern scharte sich um ihn und feierte ihn als „Claude de France“. Der Debussysmus trieb kuriose Blüten. Junge Männer kleideten sich wie er, und Mädchen versuchten, so dünn und zerbrechlich auszusehen wie Mary Garden, die Darstellerin der Mélisande. Überall in Europa erregten die Aufführungen von Debussys Werken heftige Diskurse. Seine Klangwelt verführte zur Nachahmung.
Debussy schuf eine Musik traumentrückter Stimmungen. In dem sinfonischen Triptychon Nocturnes, das ihn 1900 bekannt machte, oder der sinfonischen Dichtung La mer gestaltet er mit zarten Klängen und mannigfaltigen Farben das Vorbeiziehen der Nachtwolken wie das kräuselnde Spiel der sich im Wind aufbäumenden Wellen nach. Er arbeite an gewissen Dingen, „die erst von den Enkeln des 20. Jahrhunderts begriffen werden“, schrieb er an den Dichter Pierre Louÿs.
Seine Klänge ließen die seriellen Strukturen Anton Weberns erahnen und nahmen das Phänomen der Klangfarben vorweg. Wie Pierre Boulez feststellte, strahlte Debussy „verführerische Kräfte“ aus. Für Olivier Messiaen war Pelléas et Mélisande eine Offenbarung. Ernst Krenek entdeckte im Orchestervorspiel zum letzten Akt der Oper einen Akkord, der ihn tief berührte und „einen magischen Reiz“ auf ihn ausübte. Er ließ seine Oper Orpheus und Eurydike damit beginnen und enden und den Klang während des ganzen Stücks immer wieder auftreten. Béla Bartók fand in Debussys Partituren, die Zoltán Kodály voll Begeisterung aus Paris brachte, einen der wichtigsten Anreize zur Herausbildung seines neuen Stils.
Doch die Klänge, mit denen Debussy sein Publikum verzauberte, waren einem tragischen Leben abgerungen. Angefangen von der Kindheit mit einer Mutter, der er eine Last war und die kein Gespür für sein außergewöhnliches Talent besaß, bis zu seinem Tod in Krankheit und Krieg war er stetig begleitet von Problemen und Krisen. Da waren die schwierigen Verhältnisse zu seinen Frauen und die beständigen Geldnöte, die ihn bedrückten. Selbst in seiner letzten Lebensphase, als er Erfolg hatte und scheinbar im Wohlstand lebte, belasteten ihn so enorme Schulden, dass er in Briefen von Selbstmord schrieb.
Hinzu kamen Depressionen, Ängste und Selbstzweifel. Sie verdammten ihn immer wieder zu wochenlanger Untätigkeit und verhinderten die Fertigstellung vieler Werke. Der Komponist Robin Holloway spricht vom „Zwang zur Nichtvollendung“. Das Fragment des Operneinakters La chute de la maison Usher nach Edgar Allan Poe wurde 1979 von dem Komponisten Juan Allende-Blin orchestriert und an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt. 2006 „vollendete“ der Musikwissenschaftler Robert Orledge die Oper mit Debussys Material. Ein im Zuge der im Verlag Durand erscheinenden „Œuvres Complètes de Claude Debussy“ entdeckter Entwurf lieferte das Motiv der „Schwarzen Flügel des Schicksals“ für den Schluss.
„Immer wieder kommt etwas ans Licht“, bestätigt Denis Herlin, der 2002 François Lesure als Herausgeber der Ausgabe nachfolgte. Er betont zudem die Sorgfalt, die Debussy für sein Werk aufwandte: „Seine Manuskripte sind Meisterwerke musikalischer Grafik.“ Debussy nahm sie wiederholt zur Hand, um bis in den Probenprozess hinein zu feilen und zu ändern. „Er wollte immer weitergehen in seinem Werk und sich nicht wiederholen.“ 2018 erscheint der 21. Band. 2030 soll die Ausgabe vollständig vorliegen.