Claudio Abbado
Maestro mit Gefühl
von Corina Kolbe
29. Juni 2023
Im Juni diesen Jahres würde der große Dirigent Claudio Abbado 90 Jahre alt. CRESCENDO hat ihn 2013 kurz vor seinem 80. Geburtstag in der Wahlheimat Bologna besucht.
In Bologna wohnt Claudio Abbado am wohl schönsten Platz der Altstadt, wo dicht aneinandergereihte Renaissance-Palazzi im spitzen Winkel aufeinander zulaufen und lange Schatten werfen. Ein fast unwirklicher Ort, der an die metaphysischen Bilder von Giorgio de Chirico erinnert. Aus seiner Wohnung hoch über der Stadt blickt der Dirigent auf ein Meer aus rotbraunen Dächern, hinter denen sich grüne Hügel erheben. In dieser Abgeschiedenheit, nicht weit vom quirligen Leben der Stadt entfernt, findet er Ruhe für das intensive Studium von Partituren.
Für Abbado, der am 26. Juni seinen 80. Geburtstag feiert, sind die Musik und die Arbeit mit Orchestern das beste Lebenselixier. Nach Jahrzehnten auf den Podien der bekanntesten Musikzentren konzentriert er sich inzwischen auf wenige Klangkörper, wie etwa sein Orchestra Mozart, das 2004 an der ehrwürdigen Regia Accademia Filarmonica in Bologna gegründet wurde. Dass sich Abbado und seine Musiker intuitiv verstehen, wird bei Proben und Konzerten rasch deutlich. Ihre Kommunikation bedarf keiner großen Worte. Hier eine kleine Geste und ein Lächeln des Dirigenten, dort ein rascher Augenkontakt unter den ersten Geigen.
Wenn Abbado mit geschmeidigen Bewegungen der linken Hand den Klang formt und mit der rechten den Takt schlägt, fließt die Musik transparent und schwerelos. Als kürzlich Guy Braunstein, erster Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, mit dem Bologneser Orchester bravourös das zweite Violinkonzert von Sergej Prokofjew spielte, hielt sich Abbado beim Applaus bescheiden im Hintergrund. Die große Geste des Maestro, der sich in erster Linie selbst gefeiert sehen will, ist dem Mailänder wesensfremd.
»Musik ist notwendig für das Leben.«
Die Beziehungen zu den Musikern, mit denen Abbado am liebsten zusammenarbeitet, sind oftmals über viele Jahre gewachsen. Braunstein etwa kennt er ebenso wie die Bratschistin Danusha Waskiewicz und ihren Kollegen Wolfram Christ noch aus seiner Zeit als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, die er vor elf Jahren verließ. Langerfahrene Solisten spielen im Orchestra Mozart mit jungen Musikern aus ganz Europa, von denen viele ihre ersten professionellen Erfahrungen in Abbados Jugendorchestern sammelten, und mit dem noch jüngeren Nachwuchs, der ganz am Anfang steht.
Das Ideal des kammermusikalischen Zusammenmusizierens, das alle vereint, hat Claudio Abbado seit seiner Kindheit verinnerlicht. In seinem Elternhaus in Mailand wuchs er mit den Trios von Schubert, Brahms und Beethoven auf, die sein Vater Michelangelo, Geiger und Musikpädagoge, mit seinen Freunden einstudierte. Von der Mutter Maria Carmela, einer Pianistin und Kinderbuchautorin, erhielt er den ersten Unterricht am Klavier. In dem von ihm selbst für junge Hörer verfassten Buch „Meine Welt der Musik“ erzählt er, wie er sich damals vorstellte, dass aus dem Grammophon der Familie nachts kleine Männchen mit Instrumenten herausstiegen. Unvergesslich bleibt ihm auch sein erster Besuch in der Scala mit sieben Jahren, als ihn die ‚Nocturnes von Claude Debussy so sehr beeindruckten, dass er beschloss, den Zauber der Musik selbst erschaffen zu wollen.
Das Aufeinanderhören als Grundvoraussetzung nicht nur des Musizierens, sondern auch des menschlichen Zusammenlebens im Allgemeinen, ist für Abbado auch als Dirigent großer Orchester zentral geblieben, ob als Chef an der Scala, bei den Wiener und Berliner Philharmonikern, in London und Chicago, bei seinen Jugendorchestern oder am Pult des Mahler Chamber Orchestra, des Lucerne Festival Orchestra und des Orchestra Mozart. Dass Musik nicht nur einer kleinen Élite, sondern allen Menschen, unabhängig von Alter, Herkunft und Vorbildung, zugänglich sein sollte, versuchte er an der Scala dadurch zu erreichen, dass er das traditionelle Opernhaus auch für Arbeiter und Studenten öffnete. Mit seinen Freunden, dem Pianisten Maurizio Pollini und dem Komponisten Luigi Nono, organisierte er Aufführungen in Fabriken und Gesprächskonzerte, um neuen Hörerschichten vor allem auch zeitgenössische Musik nahezubringen.
Nach seiner Zeit an der Scala gründete er als Generalmusikdirektor in der österreichischen Hauptstadt das Festival Wien Modern, das neue Kompositionen mit anderen Künsten in Verbindung brachte. Diesen grenzüberschreitenden Ansatz führte Abbado als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker von 1989 bis 2002 fort. Er führte Zyklen ein, die Themen wie „Prometheus“, „Hölderlin“, „Shakespeare“ oder „Liebe und Tod“ in Musik, Literatur, Theater, Kunst und Film behandelten. In dem Buch „Musik über Berlin“ erklärt er, die geistige Offenheit der Stadt nach dem Mauerfall sei die ideale Voraussetzung für ein breitgefächertes Kulturangebot gewesen, das alle Menschen ansprechen sollte.
»Theater, Bibliotheken, Museen und Kinos sind wie viele kleine Aquädukte.«
Wie sehr Musik auch gesellschaftlichen Randgruppen helfen kann, zeigt das Orchestra Mozart mit seinen Projekten „Tamino“ für kranke Kinder und „Papageno“ für Strafgefangene, die zum Chorsingen angeregt werden. Im Rahmen von „Tamino“ erproben dagegen Kammerformationen des Orchesters bei Besuchen in Hospitälern die musiktherapeutische Wirkung von Musik. „Musik ist notwendig für das Leben. Sie kann es verändern, verbessern und in einigen Fällen sogar retten“, sagt Abbado. Diese Erkenntnis war ihm wohl nirgendwo so nahe wie bei seinen Aufenthalten in Venezuela, wo er das staatlich finanzierte Kinder- und Jugendorchestersystem von José Antonio Abreu unterstützt, das bereits vielen einen Ausweg aus einem Leben im Elend geboten hat.
Claudio Abbado liebt es nicht, in der Öffentlichkeit das Wort zu ergreifen. Wenn es um die Zukunft von Musik und Bildung in Krisenzeiten geht, überwindet er jedoch seine Zurückhaltung. Kultur sei so lebensnotwendig wie Wasser, erklärte er in einer beliebten italienischen Fernsehsendung, wo er eindringlich vor weiteren Budgetkürzungen warnte. „Theater, Bibliotheken, Museen und Kinos sind wie viele kleine Aquädukte.“
Zwischen seinen Auftritten zieht sich Abbado häufig in seinen Küstengarten auf Sardinien zurück, in dem er Pflanzen aus verschiedenen Kontinenten großzieht. In gewisser Weise ist dieser über Holzstege begehbare Naturkosmos, hinter dem sein Haus fast völlig verschwindet, dem Idealbild eines Orchesters vergleichbar. Violette Bougainvilleen, Bananenstauden, Palmen und Passionsblumen finden sich neben leuchtend rotem Hibiskus und blühenden Agaven. Aufmerksam hegt Abbado seine Pflanzen und versucht sie dort anzusetzen, wo sie sich unter seiner Beobachtung am besten frei entwickeln können. Ähnlich empfinden es auch die meisten seiner Musiker. Er fühle sich wie ein Vogel an einer sehr langen Leine, frei und doch unter Kontrolle, sagte einmal Albrecht Mayer, der als Solo-Oboist bei den Berliner Philharmonikern mit ihm arbeitete. Und Abbado erreicht mit seiner sanften, leisen Autorität, dass alle ihr Bestes geben.
Darüber hinaus engagiert sich der überzeugte Umweltschützer seit Längerem auch für die Begrünung von Städten. In Mailand verlangte er vor einigen Jahren als Bedingung für eine Rückkehr an die Scala 90.000 neue Bäume, die gegen den Smog in der Metropole wirken sollten. Als das von Renzo Piano entworfene Konzept nach langem Hin und Her von der Stadtregierung abgeschmettert wurde, sagte Abbado seinen damals vorgesehenen Auftritt in dem Opernhaus zunächst ab. Als er schließlich im vergangenen Herbst nach 26 Jahren wieder an das Pult der von ihm gegründeten Filarmonica della Scala trat und Musiker des Orchestra Mozart mitbrachte, war von seinen Bäumen keine Rede mehr. Auf Sardinien gedeiht dagegen ein neun Hektar großes öffentlich zugängliches Naturschutzgebiet, das er gemeinsam mit Freunden an einem ehemals zur Müllkippe degradierten Küstenstreifen geschaffen hat.