Cornelia Funke
„Der Welt ohne Scheu ins Gesicht sehen“
von Rüdiger Sturm
25. Dezember 2021
Mit viel Fantasie zum Kultstatus über Nacht: Die Schriftstellerin und Illustratorin Cornelia Funke.
CRESCENDO: Man weiß, dass Sie passionierte Kaffeetrinkerin sind. Hat Kaffee denn auch eine emotionale Bedeutung für Sie?
Cornelia Funke: Ich habe lange in Amerika gelebt, wo ich viel über Zuversicht gelernt habe – nicht zuletzt das Verdienst meiner kubanischen Assistentin und Freundin Angie. Hatte ich morgens einen Anflug deutschen Problemdenkens, stand sie lächelnd da und sagte „Let’s have a coffee“. Kaffee schmeckt nach Freundschaft.
Nun haben Sie ihr Lebewohl gesagt und sind vom kalifornischen Malibu ins italienische Volterra übergesiedelt sind. Warum?
Das Leben in Malibu wurde immer problematischer. Viele, die dort seit Jahrzehnten leben, können es sich nicht mehr leisten. Das große Feuer 2018 hat das noch schlimmer gemacht – die alten Häuser gingen verloren. Es wird leider immer mehr ein Ort der sehr Reichen. Zudem wurde die Dürre immer bedrohlicher, jeden Monat gab es mindestens drei Feueralarme. Kalifornien wird leider zum Schaufenster des Klimawandels. Durch Covid nahm die Gewalt in Los Angeles zu, auch die Obdachlosigkeit. Man kommt sich ein bisschen vor wie in Pompeji. Rauch steigt aus dem Vulkan, aber das Leben fühlt sich doch gut an. Es ist schwer, einen Ort zu verlassen, den man liebt. Das ging den Römern sicher genauso.
»Ich schreibe Bücher nicht mit einer Botschaft – ich will meine Leser nicht bevormunden.«
Dieses apokalyptische Gefühl scheint sich auch in Ihrem Roman Der Fluch der Aurelia widerzuspiegeln, dem dritten Band Ihrer Drachenreiter-Reihe, in dem ein riesiges Ungeheuer aus der Tiefsee an die kalifornische Küste kommt.
Ja, allerdings habe ich nicht das Gefühl, dass die Welt nur in Kalifornien untergeht. Die Klimakatastrophe ist überall. Wir glaubten, wir müssten unsere Kinder davor beschützen, doch jetzt erleben wir Unwetter, Feuer und Überflutungen selbst. Dieses Motiv spielt in das Buch mit hinein. Aber ich schreibe Bücher nicht mit einer Botschaft – ich will meine Leser nicht bevormunden.
»Man sollte der Welt ohne Scheu ins Gesicht sehen und nicht eine Idylle stricken, die man seinen Lesern als Schutz verkauft.«
Wie ist Ihre Haltung als Geschichtenerzählerin denn dann?
Man sollte der Welt ohne Scheu ins Gesicht sehen und nicht eine Idylle stricken, die man seinen Lesern als Schutz verkauft. Natürlich kann man sich in meine Bücher hineinbegeben und darin Erholung, Frieden und Licht finden. Doch sie sind nicht friedlich. Sie sind wie ein Sturmkeller, aber sie leugnen die Existenz des Sturms nicht. Ich möchte auch selbst nicht in einer Illusion leben. Das ist einer meiner vorherrschenden Charakterzüge. Wenn ich den Eindruck habe, dass ich mir etwas über die Welt vormache, dann weiß ich: Das muss ich ändern. Und das bedeutet, ich muss mich mit der Realität auseinandersetzen.
»Musik ist die größte aller Künste. Weder das Schreiben noch das Malen vermag, was Musik für das Verstehen menschlicher Existenz bringen kann.«
Nun haben Sie aber die idyllische Toskana als Wohnort gewählt – wunderbar abgeschirmt von der harten Wirklichkeit…
Ich weiß sehr wohl um diesen Widerspruch. Eigentlich wollte ich gar nicht in die Toskana, aber dann hat man mir dieses Haus angeboten, eine alte Alabasterwerkstatt, keine Villa. Und Volterra ist nicht so reich und wilder als Florenz. Aber es ist natürlich eine Herausforderung, nicht in dieser Fremdenblase zu landen. Vielen Menschen leben wohl seit 20 Jahren hier, reden kein Wort Italienisch und leben in ihrer toskanischen Fantasie. Ich stammle mich durch mein langsam wieder besser werdendes Italienisch, lerne über den Ort und die Menschen und versuche, einen Beitrag zu leisten, damit ich mir verdiene, hier zu leben. Dazu gehört auch, dass ich Gäste aus der ganzen Welt herbringe. Bislang heißen mich alle Volterraner aufs Herzlichste willkommen, was ein sehr schönes Gefühl ist. In einem Jahr weiß ich dann hoffentlich, ob ich besser in der Alten oder in der Neuen Welt bin.
Musik spielt in Ihren Büchern immer wieder eine Rolle…
Ich kann ohne Musik überhaupt nicht leben. Ich brauche sie morgens zum Frühstück, oft beim Schreiben, beim Autofahren. Sie ist die größte aller Künste. Weder das Schreiben noch das Malen vermag, was Musik für das Verstehen menschlicher und nicht menschlicher Existenz bringen kann.
Machen Sie selbst Musik?
Ich kann nur ein wenig singen. Einmal meinte ein Kind bei einer Lesung zu mir „Du hast gesagt, du kannst singen, also sing doch mal!“ Also habe ich a cappella aus Cabaret gesungen. Großer Spaß! Ich lade neben Illustratoren und Schriftstellern natürlich auch Musiker ein. Als Allererstes habe ich hier ein Soundstudio eingerichtet, und die ersten Künstler, die hier zu Gast waren, waren Saxofonisten und ein Gitarrist.
Gibt es bestimmte Musikrichtungen, zu denen Sie eine besondere Affinität haben?
Ich bin an jeder Art von Musik interessiert. Mein Sohn ist elektronischer Musiker, und wenn ich seinen Kompositionen zuhöre, dann gibt er mir das Gefühl, als würde er den Soundtrack zu meinem Leben schreiben, weil ich mich darin so zu Hause fühle.
Welche Stücke gehören denn zum Soundtrack Ihres Lebens?
Für jedes Alter hat man ein anderes. In meinen frühen 20ern habe ich beispielsweise viel Neil Young gehört, und ich weiß noch heute, wie seltsam es war, dann in Los Angeles durch den Topanga Canyon zu fahren, wo er mein Lieblingsalbum geschrieben hat. Von den Red Hot Chili Peppers höre ich immer Under the Bridge, wenn ich Heimweh nach Amerika habe. Momentan höre ich bei Anflügen von Amerikasehnsucht Brandi Carlyle. Meine Lieblingsband ist The National. Und gerade habe ich mir italienische Musik heruntergeladen, um da ein bisschen hineinzukommen, und habe sehr interessante Sachen entdeckt. Heute Morgen habe ich Albinoni und Corelli gehört. Also: eine lange Liste.
Wir sprachen von Zuversicht und Endzeitgefühlen. Wird die Zukunft optimistische Klänge bieten, oder erwarten Sie melancholische Moll-Töne?
Es gibt einen fantastischen Essay des amerikanischen Autors James Baldwin, der einmal schrieb, die Amerikaner besäßen noch nicht den Sinn des Tragischen, während die Europäer von den Amerikanern dringend Hoffnung lernen müssten. Vielleicht habe ich mich in Amerika so wohlgefühlt, weil man Kinderbuchautoren nachsagt, dass sie an die Hoffnung glauben. Darin besteht angeblich auch der Unterschied zwischen Kinder- und Erwachsenenautoren. Und diesen Glauben behalte ich wider besseres Wissen.
Weitere Informationen zum Hörbuch „Ein Engel in der Nacht“ von Cornelia Funke und mit Musik von Luna Pearl Woolf unter: CRESCENDO.DE
Weitere Informationen zu Cornelia Funke unter: corneliafunke.com