Daniel Barenboim
Freiheit für Beethoven!
von Margarete Zander
30. Oktober 2020
Daniel Barenboim lädt auf Entdeckerreisen in den Kosmos Beethoven ein. 32 Sonaten und die Diabelli-Variationen hat er aufgenommen und Beethoven neu entdeckt.
Einfach mal ausprobieren: Pathétique, Mondschein, Hammerklavier, Waldstein, Appassionata, Opus 111, die bekanntesten Beethoven-Sonaten also, die Daniel Barenboim als 15-Jähriger beim New Yorker Plattenlabel Westminster eingespielt hat, mit den aktuellen Aufnahmen aus dem frisch erschienenen Bonus-Album per Schnittsystem übereinanderlegen und hin- und herswitchen – Staunen und Vergnügen konnten schöner nicht sein! Man wird mitgerissen vom Temperament des jungen Barenboim, der mit der strahlenden Sicherheit der Jugend die Dynamik auskostet, rasante Tempi anschlägt und klar die Strukturen der Sonaten zeichnet. Und die aktuelle Aufnahme? Die bereitet Vergnügen, weil die Gestaltung noch differenzierter ist, weil er feinste Schattierungen malt zwischen glasklaren Verzierungen und musikalischen Gesten, die wie mit einem Pinselstrich hingeworfen sind. Unerhörte Zwischenstimmen lassen den Klang plastisch und lebendig werden und laden zu Entdeckerreisen in den Kosmos Beethoven ein.
Unter diesen Eindrücken beginnt das Gespräch mit Daniel Barenboim. Er hört aufmerksam zu und erwidert auf die Frage, wie er die Aufnahme des 15-Jährigen finde: Er habe sie gar nicht gehört. Wie, noch nicht mal jetzt, da die Deutsche Grammophon sie als Bonus-CD zu seinen aktuellen Aufnahmen veröffentlicht? „Nein, ich hatte Angst! Angst, dass die Aufnahme von damals besser ist“, ergänzt er. Natürlich weiß Daniel Barenboim, dass er klaviertechnisch auch heute noch keine Probleme beim Spielen hat. Und dass in die aktuelle Aufnahme 60 Jahre Erkenntnisse und Erfahrungen mit Beethovens Musik eingeflossen sind.
»Wenn ich am Klavier sitze, fühle ich mich jung.«
Extreme Tempi wie das im Dritten Satz der Mondscheinsonate sind schlicht beeindruckend. Die leichtläufige Beweglichkeit seiner Finger erlaubt Daniel Barenboim, seine Entdeckungen mit allen Facetten in Musik zu verwandeln, die Figuren für den Moment „lebendig zu machen“, wie er gerne sagt. „Ich habe mit Anfang 60 festgestellt, dass ich mir die Socken nicht mehr auf einem Bein stehend anziehen kann“, lacht er, „aber wenn ich am Klavier sitze, fühle ich mich jung.“
„Alles soll sich natürlich entwickeln“, fordert Daniel Barenboim, und dieses Ziel leitete ihn schon als Jugendlicher. Damals, 1958, war es für ihn keine große Sensation, die bekanntesten Beethoven-Sonaten in New York aufzunehmen. Seit er neun Jahre alt war, hatte er sie gespielt, mit zehn Jahren zum ersten Mal öffentlich im Konzert. „Das war sehr spannend für mich. Ich war kein sensationelles erfolgreiches Wunderkind wie Menuhin oder so. Ich hatte Erfolg, habe zwischen zehn und 14 in allen Hauptstädten gespielt. Es war okay, aber eben nicht sensationell.“
»Als man mir angeboten hat, alle Beethoven-Sonaten zu spielen, war das für mich ein großes Fest!«
Offenbar hatte der Chef von Westminster Records ein besonderes Gespür für Nachwuchs. Denn diese Schallplatte wurde später als Geheimtipp gehandelt. „James Grayson war ein sehr netter Mann. Sein Kopf war eine Musikbibliothek. Er wusste alles, kannte alles und war sehr gebildet. Ein sehr lieber Mensch, der sich wirklich um mich gekümmert hat. Und es war für mich absolut natürlich und normal, in New York im Studio der RCA aufzunehmen.“ Seine Eltern hatten den Teenager damals begleitet, mental aber fühlte er sich nicht mehr von ihrer Unterstützung abhängig. Das lag auch an Arthur Rubinstein, der ihn ein paar Jahre zuvor, da war er 12, nach einer Unterrichtsstunde in Paris zum Essen eingeladen hatte – ohne die Eltern. Seitdem fühlte sich der Pianist ernst genommen und selbst verantwortlich für das, was er tat. „Ja, an dieses Gefühl kann ich mich bis heute sehr gut erinnern“, lacht Barenboim.
Mit 17 Jahren spielte er den gesamten Zyklus der 32 Sonaten von Ludwig van Beethoven in Tel Aviv. Und das kam anders, als man es sich vielleicht vorstellt: „Die Zeit, als ich 16, 17 war, war für mich sehr traurig, denn ich hatte keine Konzerte. Verstanden habe ich das aber erst später. Ich hatte keine Konzerte, weil ich sozusagen nicht mehr Wunderkind, aber auch noch nicht erwachsen war. Und laut Kalender hatte ich eigentlich nichts zu tun. Das klingt ein bisschen überdramatisch für einen 16- oder 17-Jährigen, aber ich war eben gewöhnt, immer zu spielen. Und plötzlich war das Einzige, was ich machen konnte, meine Schule und das Abitur. Habe ich dann ja auch. Als man mir schließlich angeboten hat, in Tel Aviv alle Beethoven-Sonaten zu spielen, war das für mich ein großes Fest!“
Einmal pro Woche spielte er also Beethoven-Sonaten, in der gleichen Zeit absolvierte er das Abitur. „Es war nicht in einem Konzertsaal, sondern im Journalistenhaus, das bis heute existiert. Der Mann, der das damals geleitet hat, war ein großer Musikliebhaber. Ich traf ihn per Zufall, und er hat gefragt ‚Wie geht’s dir, was machst du?‘ Ich war in einer großen jugendlichen Depression. Und ich hatte Vertrauen zu ihm und habe gesagt, ‚Nicht gut, ich habe keine Konzerte, ich kann nirgendwo spielen!‘ Und er erwiderte: ‚Ich leite jetzt dieses Journalistenhaus, wenn du willst, kannst du dort spielen, soviel du willst!‘“
»Ich habe von Beethoven für das Leben gelernt.«
Auf den Beethoven-Sonaten-Konzertzyklus folgte einer mit sämtlichen Mozart-Sonaten, und schließlich stiegen die Buchungen für Konzerte international stetig an. Die Beethoven-Sonaten aber wurden eine Konstante in seinem Leben – ein Ratgeber. „Ich habe von Beethoven für das Leben gelernt!“, formuliert Daniel Barenboim gern. Etliche Male hat er die Sonaten in Konzerten gespielt, oft als Gesamtzyklus. Vier Mal wurden sie auf Schallplatten und CDs veröffentlicht: in den 60er, 70er, 80er und 90er-Jahren.
„Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass es heute noch Interesse an einer neuen Aufnahme geben würde!“, erklärt Daniel Barenboim und versteckt dabei seine Freude und das ungläubige Staunen über die spontane Anfrage der Deutschen Grammophon in keinster Weise. Weil ihm aber – wie vielen anderen Künstlern auch – der coronabedingte Stopp des Konzertbetriebes plötzlich viel Zeit schenkte und er schon angefangen hatte, die 32 Beethoven-Sonaten für eine Gesamtaufführung in Berlin und Wien neu zu erkunden, beschloss er dranzubleiben. „Ich habe das alles aufgenommen, ohne darüber nachzudenken, wofür. Ende Mai fing ich an – ich wollte das für mich machen! Ich habe sie nicht aufgenommen, um sie zu veröffentlichen.“ Das Üben hätte ihm Spaß gemacht, schwärmt er, vor allem an dem Flügel, der für ihn gebaut wurde. Dieser Steinway-Flügel (es ist bereits der zweite) des belgischen Instrumentenbauers Chris Maene biete ein unerschöpfliches Meer von Klangnuancen, von den warmen durchklingenden Bässen bis zum gesanglichen Spiel im Diskant.
»Man kann den Ausdruck in der Musik nicht mit Worten erklären, sonst wäre es unnötig zu musizieren.«
Mit „jungfräulichem Blick“ schaue er jedes Mal die Noten an, erzählt Daniel Barenboim weiter. Aber wie kann das gehen, da die Finger doch auch ein haptisches Gedächtnis haben und sich ein gewisser Automatismus kaum vermeiden lässt? „Routine ist der größte Feind von Musik“, sagt Daniel Barenboim. „Ich beschäftige mich mit so viel Musik – Klavier solo, Kammermusik, Orchester, Sinfonien, Oper –, und von jedem Stück habe ich etwas gelernt. Deswegen habe ich eine große Auswahl von Assoziationen. Zum Beispiel: Das erinnert mich an Fidelio – da ist es so, und hier es ist anders.“
Je tiefer Daniel Barenboim in Beethovens musikalischen Kosmos eindringt, umso mehr Freude macht es ihm, am Klavier die inneren Verbindungen zu entdecken. Im Vergleich verdeutlicht er, was er meint: „Sie kennen das lateinische Alphabet, sprechen Englisch, Deutsch oder sonst eine Sprache. Jetzt gebe ich Ihnen einen Text auf Dänisch. Sie können das lesen, aber Sie verstehen kein Wort, und so wird leider oft musiziert. Dieses Verstehen aber ist etwas, das sich bei mir das ganze Leben über entwickelt hat. Ich sage oft zu den Studenten in der Akademie: ‚Ihr spielt Musik, als würdet ihr das Alphabet kennen, aber ihr sprecht die Sprache nicht.‘ Denn die Sprache sprechen heißt, den Ausdruck zu verstehen. Man kann den Ausdruck in der Musik nicht mit Worten erklären, sonst wäre es unnötig zu musizieren. Aber die Verbindungen, die muss man meiner Meinung nach immer neu denken! Und das habe ich vom Orchester gelernt!“
»In permanentem Kontakt mit der Musik zu sein, ist wirklich eine privilegierte Existenz.«
Die stetig wachsende Fülle an Details, auf die er die Musiker als Dirigent gestoßen hat, ist im Laufe der Jahre immer dichter geworden, nicht zuletzt im Programm „Beethoven für alle“ mit dem West-Eastern Divan Orchester und der aktuellen Arbeit an den neun Beethoven-Sinfonien mit der Staatskapelle Berlin. Auf Unerwartetes stieß ihn im letzten Jahr auch die Begegnung mit Beethovens Klaviertrios im Pierre Boulez Saal, mit Michael Barenboim an der Violine und Kian Soltani am Violoncello. „Oft kam etwas Überraschendes von einem der beiden. Wenn ich dann gefragt habe, warum der eine oder der andere das macht, war die Antwort: ‚Weil so, so und so‘. Und so bekomme ich auch neue Ideen. Stimme ich nur bedingt zu, schlage ich vor‚ die Idee umzusetzen, weil sie an sich gut ist. Vielleicht aber müsste man sie auch ein bisschen da- oder dorthingehend ändern.“ Das Fazit, das Barenboim aus dieser Arbeit zieht, könnte nicht schöner sein: „Diese Arbeit bereichert das Leben, denn man ist in permanentem Kontakt mit der Musik. Und das ist wirklich eine privilegierte Existenz!“
Das Geheimnis, warum man bei dieser Aufnahme plötzlich auch in den bekannten Beethoven-Sonaten so viel mehr Details hört, liegt in der Sorgfalt und neu gewonnenen Freude beim Üben: „Meist übt man so, dass die Hauptstimme ein bisschen kräftiger und die Nebenstimmen leiser zu hören sind, aber nicht alle Nebenstimmen sind gleich. Es gibt einige, die zum Beispiel harmonisch viel wichtiger sind als die anderen. Auch das habe ich vom Orchester gelernt.“
»Die Sonaten sind Impulse, musikalische Gedanken, harmonische Spannungen und rhythmische Energien.«
Besonders fasziniert haben Daniel Barenboim dieses Mal die Stellen, in denen Beethoven „crescendo“ und dann „subito-piano“ schreibt. „Wie lang geht das Crescendo, wie plötzlich ist das Subito piano? Das ist eine Eigenart von Beethoven. Vor dem Subito piano muss man das Gefühl haben, man ist bis zum Äußersten gegangen. Und dann plötzlich hört es auf, und man ist da, ohne zu fallen. Wie am Berg: Sie gehen bis ganz zur Kante, aber Sie fallen nicht runter. Das ist sehr schwer, denn es braucht unglaublich viel Mut. Nicht weniger als auf dem Berg. Und das ist es, was ich wirklich faszinierend finde.“ Und noch eine Beobachtung wird Daniel Barenboim beim Studium der Sonaten fortan begleiten: Er möchte auch in Zukunft die Sonaten in der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung spielen. Auf diese Weise wird Beethovens Entdeckerlust für ihn zum Kompass.
Dieses Neue zu entdecken, empfindet Daniel Barenboim umso schöner, als Beethovens Sonaten sehr intim sind. Für ihn fühlt es sich an, als würde er sein Tagebuch lesen. Dabei geht es ihm nicht um emotionale Befindlichkeiten aus Beethovens Alltag. Biografisches interessiert ihn im Zusammenhang mit dem Ausloten der Innenspannungen nicht, und das Wort „interpretieren“ lehnt er für seinen Vortrag am Klavier rigoros ab. „Wer die Sonaten und Streichquartette wirklich kennt, kennt im tiefsten Sinne des Wortes alles. Was sie bedeuten, kann man nicht mit Worten beschreiben. Es sind Impulse, es sind musikalische Gedanken, harmonische Spannungen und rhythmische Energien.“ Die Reflektion der musikalischen Lebensspur in Tönen.
»Jedes Mal, wenn man ein Stück spielt, lernt man etwas Neues.«
„Jedes Mal, wenn man ein Stück spielt, lernt man etwas Neues. Vielleicht ist es nur ein kleines Detail, aber es heißt, am Tag danach wissen wir mehr. Am nächsten Tag jedoch müssen wir nach wie vor bei null anfangen, denn der Klang ist ja weg. Das ist es, was ich ein privilegiertes Leben nenne. Da gibt es keinen Platz für Routine und keinen Platz für Langeweile.“
Der absolute Höhepunkt der aktuellen Veröffentlichung sind für Daniel Barenboim Beethovens Diabelli-Variationen. „Das ist, als ob Beethoven sich nach 32 Sonaten frei gefühlt hat von diesen strukturellen Dingen, die ein sehr organischer Teil seiner musikalischen Persönlichkeit waren. Und zwar völlig frei. Er hat die Fenster geöffnet, und die Luft war anders. Ich liebe das Stück! Ich habe auch mehrmals die letzten drei Sonaten gespielt, und auch das ist ein Universum. Wenn man gut in Form ist, ein einmaliger Genuss! Aber die Freiheit in den Diabelli-Variationen ist einmalig!“