KlassikWoche 51/2022

Der große Klassik-Jahres­rück­blick

von Axel Brüggemann

19. Dezember 2022

Die belarusische Flötistin Maria Kalesnikowa als Vorbild für Mut, die letzte Saison des Perkussionisten Martin Grubinger, Christian Thielemann als Symbol des Umbruchs in der Klassik.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

der letzten Ausgabe vor der Weih­nachts­pause. Deshalb heute nur mit posi­tiven Nach­richten! Wir feiern die fünf Klassik-Menschen des Jahres 2022 und geben einen Ausblick darauf, was 2023 wichtig werden könnte. Ich persön­lich sage an dieser Stelle: Danke! Danke an Sie, die diesen News­letter in diesem turbu­lenten Jahr nicht nur gelesen haben, sondern immer wieder mit debat­tiert haben. Gerade verrückte Jahre, in denen die Welt etwas anders dreht, sind Bewäh­rungs­proben für die Kultur. Ich bin der festen Über­zeu­gung, dass sie in diesen Zeiten die beson­ders wich­tige Aufgabe hat, rele­vante Themen zu debat­tieren, ein Ort werden muss, an dem argu­men­tiert und gestritten werden darf. Ich danke Ihnen, die mitge­macht haben, die sich gerieben haben, die geflucht und gelobt haben. Unsere Kultur ist lebendig. 

DIE HIGH­LIGHTS 2022

Hier sind sie, meine persön­li­chen fünf Klassik-Menschen des Jahres 2022

I. Klaus Mäkelä

Klaus Mäkelä ist der Shoo­ting-Star des Jahres 2022: Der finni­sche Diri­gent und Musik­di­rektor des Orchestre de Paris und der Osloer Phil­har­mo­niker wird 2027 auch zum Chef­di­ri­genten des Concert­ge­bou­wor­kest in Amsterdam. Dieses Jahr begeis­terte er auf einer Tournee mit seinem Orchester aus Norwegen – beson­ders spitz­fin­dige Kollegen warnten aber auch vor einem zu großen Hype. Das neue Jahr läutet Mäkelä am Pult der Wiener Sympho­niker mit Beet­ho­vens Neunter ein. (Hörtipp: „Alles klar, Klassik?“ mit Concert­ge­bou­wor­kest-Chefin Ulrike Niehoff)

II. Maria Koles­ni­kowa

Maria Koles­ni­kowa hat den Groß­teil des Jahres 2022 im Gefängnis verbringen müssen. Die bela­ru­si­sche Flöten­spie­lerin, deren Wahl­heimat Baden-Würt­tem­berg war, wurde auf offener Straße von Alex­ander Lukaschenkos Knüppel-Polizei geschnappt und wegge­sperrt, weil die Musi­kerin für die Demo­kratie und für Menschen­rechte auf die Straße gegangen war. Ihr Mut und ihr Schicksal stehen stell­ver­tre­tend für ein Jahr, mit mutigen Bürge­rinnen und Bürgen von Belarus über Russ­land bis in den Iran – und dafür, dass unsere Soli­da­rität mit den Mutigen nicht aufhören darf! (Hörtipp: „Alles klar, Klassik?“ über den Konflikt in der Ukraine mit Oksana Lyniv)

III. Tina Lorenz

Tina Lorenz leitet die Digi­tal­s­parte des Staats­thea­ters Augs­burg und defi­niert einen voll­kommen neuen Job mit großen Visionen und großer Aufmerk­sam­keit. In Augs­burg werden Auffüh­rungen längst schon mit den digi­talen Möglich­keiten gedacht, und der Ort des Thea­ters hat sich voll­kommen neu defi­niert. Alle, die skep­tisch über Katha­rina Wagners Augmented-Reality-Parsifal sind, sollten sich in Augs­burg ansehen, wie span­nend das Theater der Zukunft sein kann. (Hörtipp: „Alles klar, Klassik?“ über AR und digi­tale Kultur

IV. Martin Grubinger

Martin Grubinger hatte 2022 seine letzte ganze Saison als Welt­klasse-Perkus­sio­nist. Wer kann, sollte eines seiner letzten Konzerte 2023 besu­chen. Musik auf hohem Niveau ebenso wie die Kunst des Aufhö­rens.

V. Michael Volle

Michael Volle steht stell­ver­tre­tend für das wohl spek­ta­ku­lärste Klassik-Ereignis der Saison: Nachdem den Ring an der Staats­oper in Berlin absagen musste, sprang ein. Die vier Abende (in einer eher mittel­mä­ßigen Regie) wurden auch deshalb zum Erfolg, weil Volle den Wotan in eine urei­gene Dimen­sion gesungen hat: ein allzu mensch­li­cher Gott. (Hörtipp: „Alles klar, Klassik?“: Chris­tian Thie­le­mann im XXL-Inter­view)

DIE HIGH­LIGHTS 2023

Und hier die Menschen und Themen, über die 2023 sicher­lich gespro­chen wird.

I. Chris­tian Thie­le­mann

Chris­tian Thie­le­mann steht sinn­bild­lich für das neue Jahr wie kein anderer Klassik-Künstler. Er wird 2023 nicht in Bayreuth diri­gieren, nicht bei den Salz­burger Oster­fest­spielen sein, und sein Vertrag mit der Staats­ka­pelle Dresden ist aufge­löst. Und dennoch: Thie­le­mann scheint in seiner neuen Frei­heit auch eine Art Gewinner zu sein. Egal, ob er nach Berlin gehen wird oder nicht: Er steht für den Umbruch der Klassik und die Lust am Musi­zieren im Moment. Belohnt wird er – so hört man – dafür wohl mit dem Dirigat des Wiener Neujahrs­kon­zertes 2024.

II. Richard Lutz

Richard Lutz ist der Chef der Deut­schen Bahn. Und er gehört in diese Liste, weil es in Zeiten der Klima­krise normal geworden ist, dass große Orchester wie die Berliner Phil­har­mo­niker oder das Sympho­nie­or­chester des Baye­ri­schen Rund­funks auf ihren Social-Media-Platt­formen Bilder posten, wie sie neuer­dings mit der Bahn auf Tournee gehen. Man kann viel gegen die DB-Bruch­bude haben: Aber 2023 muss auch ein Jahr werden, in dem der Zug zum normalsten aller Verkehrs­mittel und die Klassik ein nach­hal­tiges Unter­nehmen wird.

III. Hart­mann / Heine

Doro­thea Hart­mann und Beate Heine werden das Hessi­sche Staats­theater in Wies­baden zwar erst 2024 über­nehmen, aber ihre Beru­fung ist ein Zeichen für die Branche. Unser Freund Kai-Uwe, mit dem wir so manchen Kampf über veral­tete Inten­danten-Bilder ausge­fochten haben, musste gehen. Hoffent­lich kehrt neuer – und endlich wieder krea­tiver – Wind ein in Wies­baden. Die Volks­oper und das Theater an der Wien zeigen, dass neue Besen durchaus alten Staub aufwir­beln können! Gut so.

IV. Nathalie Stutz­mann

Nathalie Stutz­mann wird viele Ohren haben, die ihr Bayreuth-Debüt im Sommer 2023 verfolgen werden. Kritiker haben die Konzerte der Diri­gentin in diesem Jahr überall beju­belt. Stutz­mann wird Tobias Krat­zers Tann­häuser diri­gieren – und damit auch einen anderen Klassik-Menschen der Zukunft in Szene setzen: Kratzer ist desi­gnierter Inten­dant der Staats­oper in Hamburg und derzeit auf der Suche nach einem Nach­folger für Kent Nagano.

V. Umbruch

Umbruch ist viel­leicht das Wort des Jahres 2023. So wie von einer Zeiten­wende gespro­chen hat, befindet sich unsere Kunst in Trans­for­ma­tion: Nach­hal­tig­keit, Publi­kums­nähe, neue Erzähl­for­mate, das Ende alter hier­ar­chi­scher Struk­turen, ein neues Bewusst­sein für Viel­falt und Fair­ness in der Kultur. So viel Umbruch wie 2023 wird es selten geben – es wird ein span­nendes Klassik-Jahr, das hoffent­lich den Neuden­ke­rinnen und Neuden­kern gehört, den Mutigen und Expe­ri­men­tie­rern. 

Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es nur? Es ist schwer, in dieser Zeit das Posi­tive zu finden, und dennoch ist es uns an dieser Stelle Woche für Woche aufs Neue gelungen. Wir Jour­na­lis­tinnen und Jour­na­listen bereiten die Platt­form für eine gesell­schaft­liche Debatte, schaffen einen Ort, an dem um Ästhetik, Kunst, aber auch um unsere Gesell­schaft gestritten werden kann. Wir sind – zum Glück – nicht immer einer Meinung. Und wir leben in Zeiten radi­kaler Umbrüche: Alte Systeme, alte Auto­ri­täten, alte Erzähl­formen werden neu hinter­fragt. Auch hier: eine Zeiten­wende. Und das ist positiv. Erlauben Sie mir, an dieser Stelle, mit dem folgenden Video, noch einmal ganz persön­lich in das so über­quel­lend volle Jahr 2022 zurück­zu­bli­cken, ein Jahr, das mich auf so vielen Ebenen, in Filmen, Mode­ra­tionen, mit dem Podcast, poli­ti­schen Debatten, aber vor allen Dingen auch durch diesen News­letter so sehr in Atem gehalten hat. Lehnen wir uns zurück, sammeln dieser Tage Kraft: Wir werden sie 2023 brau­chen. Ich wünsche Ihnen und Ihren Fami­lien besinn­liche Weih­nachts­tage und ein span­nendes 2023.

Ach so, einen kleinen Tipp für die Zeit „zwischen den Jahren“ habe ich noch: war zu Gast beim Podcast Spre­chen wir über Mord der Kollegen von SWR2 – in drei Folgen debat­tiert sie die straf­recht­liche Lage in Richard Wagners Ring des Nibe­lungen. Hab es selber noch nicht gehört – steht aber auf der Liste.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüg­ge­mann

brueggemann@​crescendo.​de