Jonas Kaufmann
Der ganz normale Pariser Wahnsinn
24. Oktober 2017
Das vielleicht Faszinierendste an Jonas Kaufmann ist seine Vielfalt. Er ist ein Sänger, der wahrhaftig ist, bei allem, was er tut.
Der Tenor Jonas Kaufmann ist ein Sänger der Vielfalt. Gleich, in welchem Genre er sich gerade aufhält – er ist stets authentisch. Seine neue Reise verschlägt ihn nach Paris.
Das vielleicht Faszinierendste an Jonas Kaufmann ist seine Vielfalt. Er ist ein Sänger, der wahrhaftig ist, bei allem, was er tut: Wahrhaftig als Wagners heldischer und silbern strahlender Gralsritter Lohengrin, wahrhaftig als fast schon schizophrener Don José, bevor er Carmen ersticht, wahrhaftig als Puccinis Freiheitsheld Cavaradossi und wahrhaftig auch, wenn er sich den italienischen Volkslied-Schmelz vornimmt. So wie auf jenem Album, mit dem er nun den ECHO-Klassik als „Bestseller des Jahres“ gewinnt. „Dolce Vita“ gleitet nie in schmierigen Kitsch ab, sondern feiert – wie es der Titel es verspricht – die Launen des Lebens in Musik.
Es ist die große Kunst von Jonas Kaufmann, gerade auch im Bodenständigen das Hehre zu finden. Eine Tugend, mit der er sich in eine Sänger-Tradition stellt, die heute selten ist: Kaufmann, der Allrounder, tritt in die großen Fußstapfen von Tenören wie Fritz Wunderlich oder Baritonen wie Hermann Prey, die ebenfalls das Genie besaßen, im Leichten das Tiefgründige aufzustöbern und im vermeintlich Schweren das zutiefst Menschliche zu finden. Jonas Kaufmann hat die Gabe, jeder Musik Abgründe abzulauschen und jeden Ton als existenzielles Ausrufezeichen zu formen.
Es ist typisch für den Tenor, dass er nach seinem Ausflug in die Sonne Italiens nun ein vollkommen anderes Album bei seinem Label Sony vorlegt. In „L’Opera“ widmet er sich der französischen Oper des 19. Jahrhunderts. Eine Epoche, in der die Kunst zum Spektakel des Bürgertums aufgeblasen wurde, in der Pferde und Bombast die Bühnen der französischen Hauptstadt bevölkerten, in der die Oper größer wurde als je zuvor: zur Grand Opéra, in der Prunk und Eleganz vorherrschten, aber eben auch Sentiment und Sehnsucht hinter der Fassade des Opulenten lauern.
„Das französische Opernrepertoire liegt mir sehr am Herzen“, sagt Kaufmann. „Diese Musik spiegelt eine einzigartige Epoche wider. Für das Album wollte ich nicht nur die Highlights auswählen, sondern auch die Werke und Rollen, die für mich Schlüsselerlebnisse waren. Zum Beispiel die Partie des Wilhelm Meister in ‚Mignon« – meine erste große französische Rolle. ‚Carmen« und ‚Werther« waren für mich so etwas wie Türöffner.“ Tatsächlich hat Kaufmann gerade als „Werther“ seine Vielfalt unter Beweis gestellt, als er ausgerechnet an der Pariser Opéra als einziger Deutscher in einem vollkommen französischen Ensemble debütierte. „Das war sicher riskant“, sagt er heute, „aber ich hatte gute Lehrmeister: Korrepetitoren, Kollegen, Dirigenten – und nicht zuletzt die Aufnahmen des legendären französischen Tenors Georges Thill.“
Das Paris des 19. Jahrhunderts war die Stadt des Architekten Georges-Eugène Haussmann, ein Schmelztiegel der europäischen Kulturszene, in dem sich unterschiedliche nationale Stile zur großen Oper verschmolzen haben. So siedelten sich viele deutsche Komponisten wie Meyerbeer oder Offenbach an der Seine an. Kaufmann interessiert diese deutsch-französische Verbindung besonders: „Offenbachs Hoffmann ist für mich eine ideale Symbiose von deutschem Tiefsinn und französischer Fantasie“, sagt der Tenor, „Massenet hat die Seelenwelt von Goethes Werther derart farbenreich und differenziert umgesetzt, wie man es sich nur wünschen kann. Insofern fühle ich mich in diesem Repertoire vollkommen zu Hause.“
In „L’Opera“ macht sich Jonas Kaufmann Mal wieder eine vollkommen neue Welt zu eigen, eine Opern-Tradition, die ein Umdenken der Stimme verlangt, ein Andersdenken der Charaktere und eine Neuerfindung des Sängers. Die französische Oper des 19. Jahrhunderts begeistert durch ihre Melodien, durch ihre musikalischen Effekte – und es ist der Verdienst von Jonas Kaufmann, auch diese Welt erneut einem Millionenpublikum vorzustellen und die oft vergessenen Bestseller des 19. Jahrhunderts zu Bestsellern des 21. Jahrhunderts zu erheben.
Preisträger der Kategorie „Bestseller des Jahres“