Petrenko bei den Berliner Philharmonikern
Ein Charismatiker am Pult
von Corina Kolbe
7. September 2018
Wieselflink kommt Kirill Petrenko auf die Bühne, während ihn tosender Beifall empfängt. Schon lange ist das diesjährige Saisoneröffnungskonzert der Berliner Philharmoniker restlos ausverkauft. Simon Rattle hat sich im Sommer endgültig aus Berlin verabschiedet, sein Nachfolger übernimmt erst im August 2019 das Ruder. Wohin wird er das Spitzenorchester führen? Und wie klingt unter seiner Leitung das so genannte klassisch-romantische Kernrepertoire, das bei seinen raren Auftritten in der Philharmonie bisher weitgehend ausgespart blieb? Der ungestüme Eingangsapplaus verrät, unter welch immensem Erwartungsdruck der gebürtige Russe steht, der mit den Philharmonikern nun sein drittes Konzertprogramm nach der Wahl zum Chefdirigenten vor drei Jahren präsentiert.
Petrenko nimmt kein langes Bad in der Menge, sondern strebt rasch zum Pult. Schon bei den ersten Takten von Richard Strauss« Tondichtung „Don Juan“ wird deutlich, mit welch intensiver innerer Energie sein Dirigat aufgeladen ist. Wie elektrifiziert folgen ihm die Streicher auf den Irrwegen des notorischen Frauenhelden. Bewährte Philharmoniker wie der Oboist Albrecht Mayer, der Flötist Emmanuel Pahud und der Klarinettist Wenzel Fuchs geben ihr Bestes, und der erste Konzertmeister Daishin Kashimoto betört durch lupenreine Violin-Soli. Kirill Petrenko dirigiert mit vollem Körpereinsatz, beugt sich teils weit zum Orchester hin. Der Verführer Don Juan wirkt weniger als Genießer denn als Getriebener. Petrenko erscheint vor allem dann vollends in seinem Element zu sein, wenn es gilt, das Orchester zu ekstatischen Steigerungen zu bringen, die dennoch nie wuchtig und forciert wirken. Dem gebannt lauschenden Publikum stockt zeitweise fast der Atem.
Ebenso passioniert geht er „Tod und Verklärung“ an, ein weiteres Jugendwerk von Strauss. Mit knapp 25 Jahren befasste sich der Komponist mit einem aufwühlenden Thema – dem Sterben eines Künstlers, der, von Schmerzen und Fieber gepeinigt, sein Leben an sich vorbeiziehen sieht. Unruhiger Erschöpfung, die sich zunächst in einem schwach pulsierenden Rhythmus äußert, folgen ein verzweifeltes Aufbäumen, leidenschaftliche Sehnsucht und schließlich ein Zustand der Verklärung, bis die Seele am Ende dem sterbenden Körper entschwebt. Dirigent und Orchester formen diese Kontraste eindrucksvoll aus und lassen den Spannungsfaden nie abreißen.
Petrenko tritt hier einmal mehr als Charismatiker hervor, der das Berliner Publikum bereits in den Jahren 2002 bis 2007 als Generalmusikdirektor an der Komischen Oper zu fesseln wusste, unter anderem mit Mozarts „Entführung aus dem Serail“. Auch seine Arbeit an der Bayerischen Staatsoper in München, wo er noch bis 2021 als Chef im Graben steht, wird zu Recht in höchsten Tönen gelobt. Bei seinem Berliner Konzert erweist sich allerdings Beethovens Siebte Sinfonie als heikler Prüfstein. Übergroß sind die Vorbilder, an denen er sich messen lassen muss. Denn seine Vorgänger Herbert von Karajan, Claudio Abbado und Simon Rattle haben Beethoven-Sinfoniezyklen eingespielt und ihre persönliche Handschrift hinterlassen.
Voller tänzerischer Energie lässt sich Petrenko auf dieses Werk ein und hält die Zügel immer kontrolliert in der Hand, auch wenn es bisweilen so scheint, als würde er im Überschwang gleich mitten ins Orchester springen. Im ersten Satz sorgen die Bläser im Dialog mit den Streichern für wunderbare, kammermusikalisch anmutende Akzente. Im „Allegretto“ allerdings, wenn ein trauermarschähnliches, mit einem ostinaten Rhythmus verknüpftes Thema von den tiefen Streichern zu den Violinen wandert und anschließend das gesamte Orchester einsetzt, wirkt diese Steigerung unter Petrenko recht zurückgenommen und lässt Brillanz vermissen. An anderen Stellen – wie im Scherzo und vor allem im letzten Satz – scheint Petrenko dagegen über das Ziel hinauszuschießen. Das stürmische „Allegro con brio“ droht gegen Ende fast aus den Fugen zu geraten. Im Vergleich dazu ließ etwa Claudio Abbado dem Orchester mehr Atem, wie in seinem 2001 in der Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom eingespielten Beethoven-Zyklus spürbar wird (zu sehen in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker: https://www.digitalconcerthall.com/de/concert/82#watch:82–7 ).
Gleichwohl wird das Publikum an diesem Abend vom überbordenden Élan des Finales völlig mitgerissen. Petrenko wird mit donnerndem Applaus, Bravo-Rufen und Ovationen im Stehen verabschiedet und kommt am Schluss noch einmal allein auf die leere Bühne zurück. Man kann gespannt darauf sein, wie sich seine Zusammenarbeit mit den Philharmonikern weiterentwickelt. Dazu sollte man ihn aber erst einmal ankommen lassen und abwarten, bis sich die riesige Aufregung über seine seltenen Auftritte gelegt hat. Erst dann wird es tatsächlich nur noch um die Musik gehen.