Elfriede Jelinek

Scharfe Syste­mo­logie

von Roland H. Dippel

16. April 2023

Die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek erstellt ihre Lebensbilanz. Ein steuerliches Ermittlungsverfahren veranlasst sie zum Rückblick auf ihre Familie. Sie denkt darüber nach, wie sehr Staaten bis heute von enteignetem jüdischem Vermögen profitieren.

Sie kennt die Treff­si­cher­heit ihrer Mittel. Wieder sind es stak­ka­to­haft gereihte Wort- und Motiv­fetzen, die in ihrem neuen Text ansteuert. Dieser ist drama­ti­sches Mono­drama, aus den Einge­weiden heraus­ge­presstes Memo­randum und globales Requiem in einem. Die Erzäh­lerin, ein poeti­sches Selbst der Autorin, erin­nert sich an ihre jüdi­schen Fami­li­en­mit­glieder, welche dem erzäh­lenden Ich noch eine Iden­tität gegeben hatten. Die Ermitt­lungen der Steu­er­be­hörde liefern den Anlass zu einer Schuss­salve über alles, was Indi­vi­duen in die von kapi­ta­lis­ti­schen Prozessen forcierte Iden­ti­täts­lo­sig­keit manö­vriert. Das subjek­tive Verste­hen­wollen von Daten­flow, Fakten­trans­fers, Liefer­ketten, und Wirt­schafts­kreis­läufen ist zum Schei­tern verur­teilt. Jelinek seziert in ihrer kalten Syste­mo­logie, dass es Grenzen nur gibt, um höhere Renditen von staat­li­chen und privaten Anle­gern im Ausland möglich zu machen. Aus Leit­kultur wird unter diesen sozialen Rahmen­be­din­gungen „Leid­kultur“.

Fotos: Karin Rocholl