Frank Höndgen
»Ein Anfang ist gesetzt«
von Ruth Renée Reif
26. Dezember 2021
Frank Höndgen ist Musikwissenschaftler, Mitherausgeber einer Chorbuch-Reihe zum Gesangbuch Gotteslob und seit 2005 Chordirektor an der Münchner Jesuitenkirche St. Michael.
CRESCENDO: Herr Dr. Höndgen, welche Geistlichen Lieder singen die Gläubigen am liebsten?
Frank Höndgen: Abhängig von der Jahreszeit und auch vom Landstrich, sind es die großen Klassiker wie Großer Gott, wir loben dich, Lobe den Herren oder bekannte Marienlieder wie Segne du, Maria und Maria, breit den Mantel aus bis hin zu den schlagerartigen Weihnachtsliedern Oh du fröhliche oder Macht hoch die Tür.
Vor 60 Jahren füllte der französische Jesuitenpater Aimé Duval mit seinen Geistlichen Liedern die Säle. In der Folge kamen – abermals aus Frankreich – die Lieder der Communauté de Taizé. Wie steht es heute um das Neue Geistliche Lied?
Das Neue Geistliche Lied wird viel gesungen. Eine große Repertoirebreite besitzt es allerdings nicht. Wie bei allen Geistlichen Liedern sind es wenige vielgesungene Schlager, die es auch in das Gedächtnis der Gemeinden geschafft haben. Die Frage ist, ob man Gregor Linßens Lied vom Licht oder die Peter-Janssens-Schlager mit zum Neuen Geistlichen Lied zählen möchte.
In das Gebet- und Gesangbuch der deutschsprachigen römisch-katholischen Bistümer Gotteslob ging das Neue Geistliche Lied erst 2013 ein. Ist die Katholische Kirche heute aufnahmebereiter?
Bereits seit Bachs Zeiten findet ungefähr alle 30 bis 40 Jahre eine Gesangbuch-Reform statt, und jedes Mal verändern sich der Kanon der Lieder und der Inhalt der Strophen. Das Neue Geistliche Lied und andere neue Lieder kamen auch schon in die Ausgabe des Gotteslobs von 1975. Aus der neuen Ausgabe von 2013 fielen einige allerdings wieder heraus. Andere Lieder, die sich über das Neue Geistliche Lied etabliert hatten und bisher in selbst herausgegebenen Heftchen oder Loseblattsammlungen verbreitet wurden, schafften es dagegen in die gedruckte Sammlung. Im Vergleich zum überkommenen Repertoire nehmen sie zwar nur einen kleinen Teil ein. Aber ein Anfang ist gesetzt. Auch die Communauté de Taizé ist mit Gesängen vertreten, was im Gesangbuch von 1975 noch nicht der Fall war.
Frank Höndgen: »Da die Katholische Kirche sich als Weltkirche versteht, haben sich Einflüsse aus anderen regionalen Kirchen wie etwa aus Israel oder von den Teilkirchen auf dem afrikanischen Kontinent bei uns niedergeschlagen.«
Spiegelt sich die kulturelle Vielfalt, die die gegenwärtige Gesellschaft auszeichnet, in den Geistlichen Liedern?
Geprägt sind wir vom abendländischen Katholizismus. Da die Katholische Kirche sich jedoch als Weltkirche versteht, haben sich auch Einflüsse aus anderen regionalen Kirchen wie etwa aus Israel oder von den Teilkirchen auf dem afrikanischen Kontinent bei uns niedergeschlagen. Allein schon dass man Lieder aus einer anderen Sprache ins Deutsche überträgt, wie etwa das Hymnengut aus der anglikanischen Tradition, zeigt, wie sich der Horizont erweitert hat.
Welche Rolle kommt dem Geistlichen Lied im christlich-jüdischen und christlich-muslimischen Dialog zu?
Der christlich-muslimische Dialog spielt sich auf einer anderen Ebene ab, weil es kein muslimisches Gesangsgut gibt. Anders die jüdische Synagogalliturgie, die über die Jahrhunderte hinweg gerade auch im christlichen Abendland eine Überformung erfuhr. So verfügten die großen Synagogen des 19. Jahrhunderts alle über eine Pfeifenorgel. Es gab gemischte Chöre und Psalmenvertonungen analog zu jenen christlicher Komponisten. Louis Lewandowski etwa schrieb seine sechsstimmigen Psalmenkompositionen nach dem Vorbild Mendelssohns. Auch die Kantorenpraxis in den jüdischen Gottesdiensten ähnelt der in unserer und dem Gregorianischen Choral. So spielt das Geistliche Lied im christlich-jüdischen Dialog eine wichtige Rolle.
Konzerttermine und weitere Informationen zu Frank Höndgen unter: www.st-michael-muenchen.de