Friedrich Cerha
Grandios zwiespältig
von Roland H. Dippel
28. November 2020
Friedrich Cerha hat das Inka-Tanzdrama Die Opferung der Gefangenen von Egon Wellesz dem Vergessen entrissen. Mit dem ORF Radio-Symphonieorchester liegt es auf CD vor.
Erstaunliches bringt der Capriccio-Katalog immer wieder zutage und macht sich auch regelmäßig verdient um die österreichisch-deutsche Moderne. Wie jetzt mit der CD-Wiederveröffentlichung eines bereits nach der Uraufführung am 10. April 1926 in Köln und einer Reprise in Magdeburg 1927 kaum gespielten „kultischen Dramas für Tanz, Sologesang und Chor“ des Schönberg-Schülers Egon Wellesz. Dem Vergessen entrissen hatte es Friedrich Cerha mit der Aufführung am 24. März 1995 im Wiener Konzerthaus beim Festival Hörgänge – Schüler der Wiener Schule und in dieser Weltersteinspielung. Mit dem ORF Radio-Symphonieorchester und dem Wiener Konzertchor gestaltete Cerha strukturierend auffächernd und befeuerte die expressionistischen Übersteigerungen der erweitert tonalen Partitur.
Wer sich bei Die Opferung des Gefangenen einen fast bizarren Mittelpunkt im Dreieck von Schönbergs Gurrelieder, Strawinskys Sacre und Orffs Carmina Burana vorstellt, liegt nicht ganz falsch: „Der Sterbende nimmt Abschied von den Kostbarkeiten der Welt, vom Weib, von Bergen und Tälern”, resümiert der deutsche Herausgeber Eduard Stucken im Nachwort zu dem auf einer abenteuerlichen Überlieferungslinie nach Europa gelangten Tanzschauspiel der Maya in Mexico und Guatemala. Der besiegte Prinz soll sterben. Ihm, dem ehrenvollen Opfer, werden davor in Tänzen noch einmal die Schönheiten des Lebens dargeboten: Rausch, Frauen, Hymnen. Dazu singen der Hofstaat, der Feldherr (damals im Zenit: Wolfgang Koch), der Schildträger des Verurteilten (Robert Brooks) und monumentale Chormassen.
Wenige Jahre nach der Uraufführung führte die historische Dynamik Komponist und Textdichter in verschiedene politische Lager: Der ungarische Jude Wellesz, der für das Ballett des frühen 20. Jahrhunderts mit Partituren wie Achilles auf Skyros (nach Hofmannsthal) und Die Nächtlichen einen schwerlich zu überschätzenden Beitrag leistete, emigrierte nach seiner Amtsenthebung durch die Nationalsozialisten. Stucken dagegen gehörte 1933 zu den Unterzeichnern des „Gelöbnisses treuester Gefolgschaft” an Adolf Hitler. Während der Weimarer Republik waren sich die Schöpfer dieses Opus in ihrer Faszination durch außereuropäische Kulturen noch einig. Die Opferung des Gefangenen ist auch ein von dekadenten Blut- und Gewaltvisionen durchdrungener Abgesang auf die alte aristokratische Welt vor 1914. Insofern gehört das personalintensive Hybridstück durchaus in die Werkreihe zwischen Elektra und Turandot. Das lässt Friedrich Cerha in dieser grandios zwiespältigen Einspielung hörbar werden.