Gabriela Montero

„Ich suche keine Unsterb­lich­keit“

von Jens Laurson

9. November 2019

Gabriela Montero ist die Königin der Interpretation. Eine einfache Melodie genügt, und sie macht große Musik daraus. Nun legt sie ihr erstes Klavierkonzert vor: ein politisches Statement, das der Welt zeigen soll, wie Venezuela wirklich ist.

Die vene­zo­la­nisch-inter­na­tio­nale Pianistin (Foto oben: © Anders Brogaard) ist auf dem Weg vom Barce­lo­naer Flug­hafen nach Hause, als mein verein­barter Tele­fon­anruf sie erreicht. Sie parkt kurzer­hand am Stra­ßen­rand.
CRESCENDO: Wir machen das so kurz und schmerzlos wie möglich, verspreche ich.
Gabriela Montero: Och, Inter­views sind eigent­lich meist recht schmerzlos. Nur wenn ich über spezi­fi­sche poli­ti­sche Aspekte befragt werde, kann es manchmal etwas schmerz­lich werden.

»Tatsache ist, dass Politik in alle Aspekte unseres Seins hinein­spielt.«

CRESCENDO: Weil die Situa­tion – vor allem in Ihrem Heimat­land – quälend ist?
Gabriela Montero: Ja, leider. Wir denken oft über Politik nach, als wäre es etwas, was uns nichts angeht und mit unserer globalen Gesell­schaft gar nichts zu tun hat. Tatsache ist, dass Politik in alle Aspekte unseres Seins hinein­spielt. Sie bestimmt, wie die Welt zusam­men­ge­fügt ist. Und die Situa­tion ist schmerz­lich. Aber wir können auch nur über Musik reden. Das soll mir auch recht sein.

»Ich möchte kommu­ni­zieren, was in Vene­zuela wirk­lich vor sich geht.«

CRESCENDO: Das wird gar nicht so leicht – Ihre Kompo­si­tionen sind persön­lich-poli­ti­sche Bekennt­nisse. Kommen wir doch gleich zu Ihrem Latin Concerto. Es ist gerade mit dem Ravel-Konzert heraus­ge­kommen und ist Ihr erstes Klavier­kon­zert, will man Ihr Opus 1, ExPa­tria, als etwas wie eine Rhap­sodie für Klavier und Orchester betrachten.
Gabriela Montero: Ich würde ExPa­tria als Tondich­tung bezeichnen … Ein gänz­lich poli­ti­sches State­ment in musi­ka­li­scher Form. Als ich über Jahre konzer­tie­rend um die Welt reiste, so viele verschie­dene Zuhörer kennen­lernte und gleich­zeitig bemerkte, wie viel Unwissen über Vene­zuela exis­tiert, wurde mir bewusst, dass ich einen Weg finden muss, um zu kommu­ni­zieren, was in Vene­zuela wirk­lich vor sich geht. Mit dem emotio­nalen Medium Musik konnte ich die intel­lek­tu­elle Diskus­sion über Politik umgehen und direkt von dem mensch­li­chen Aspekt und Leid spre­chen.

»Wenn ich kompo­niere, dann immer, weil ich eine Geschichte erzählen möchte: Wer bin ich – als Frau, als Musi­kerin, als Vene­zo­la­nerin.«

CRESCENDO: Wenn Sie kompo­nieren, was über­wiegt? Die Kompo­nistin, die eine Aussage treffen will? Oder die Pianistin, die das kompo­niert, was sie später gerne selbst auf der Bühne spielt?
Gabriela Montero: In erster Linie sehe ich mich als Inter­pretin, weil ich Kommu­ni­ka­torin bin. Und kommu­ni­ziert habe ich schon immer über meine vielen Impro­vi­sa­tionen, aber auch über mein Spiel von Reper­toire­stü­cken. Wenn ich kompo­niere, dann immer, weil ich eine Geschichte erzählen möchte: Wer bin ich – als Frau, als Musi­kerin, als Vene­zo­la­nerin –, und was denke ich über die aktu­ellen Ereig­nisse, die sich so sehr auf mein Leben und mein Land auswirken? Es geht mir dann also nicht so sehr um den Aspekt der Darbie­tung, sondern eher darum, Botschaf­terin zu sein und ein Doku­ment zu hinter­lassen. Darüber, was die Vene­zo­laner schon alles haben durch­ma­chen und durch­leiden müssen. Könnte ich Worte benutzen, die genauso wirksam sind, ich würde Worte wählen. Aber Musik ist so wirkungs­voll in der Kommu­ni­ka­tion, weil sie direkt zum Herzen geht. 

»Es gibt zuhauf Schatten, die unsere Entwick­lung und unser Wohl­ergehen gefährden.« 

Südame­rika ist ein Konti­nent, der bekannt ist für seine Rhythmen, seine Bunt­heit, seinen Geist. Für seinen Humor, die Sinn­lich­keit seiner Länder und Leute. Auch für eine Einstel­lung, die es irgendwie immer schafft, allen Schwie­rig­keiten und Extremen zu trotzen. Das Konzert ist eine Refle­xion über die Tatsache, dass das zwar alles irgendwie zutrifft, aber dass Land und Konti­nent noch so viel mehr sind. Insbe­son­dere auch, dass es da eine ganz beacht­liche dunkle Seite gibt. Klar kann man davon die Rhythmen und Melo­dien, die Sprit­zig­keit und Leucht­kraft mitnehmen. Aber es gibt zuhauf Schatten, die unsere Entwick­lung und unser Wohl­ergehen gefährden. Diese Botschaften über die dunk­leren Seiten unserer Natur sind mit einge­bettet.

Gabriela Montero legt ihr erstes Klavierkonzert vor: ein politisches Statement, das der Welt zeigen soll, wie Venezuela wirklich ist.

Gabriela Montero: „Mein Ziel ist es, unter die Ober­fläche zu kommen, um wirk­lich heraus­zu­finden, was in diesen Ländern los ist.“
(Foto: Anders Brogaard)

CRESCENDO: Es gibt in der klas­si­schen Musik einen Topos des „latein­ame­ri­ka­ni­schen Klangs“ – bei dem südame­ri­ka­ni­sche Leben­dig­keit schnell kippt und man meint, Speedy Gonzalez höchst­per­sön­lich wäre mit den Maracas davon­ge­laufen. Das passiert in Ihrem Konzert nicht – weil Sie auch die dunk­leren Seiten anspre­chen?
Gabriela Montero: Die Tendenz zu einer Kari­katur des Latein­ame­ri­ka­ni­schen gibt es leider. Diese Idee, dass sich in Latein­ame­rika alles um Spaß, Sonne, Strand, Musik und Mojitos dreht … So ist es nicht. Die Realität ist weitaus komplexer und grau­samer als das, worüber die Leute wirk­lich reden wollen.

»Es ist ein Versuch, ein Porträt meiner Kultur zu malen, mit allen Ecken und Kanten.« 

Mein Ziel ist es, unter die Ober­fläche zu kommen, um wirk­lich heraus­zu­finden, was in diesen Ländern los ist. Und natür­lich hat Musik ihre Grenzen – sie kann sehr abstrakt sein. Deshalb halte ich den Begleit­text zum Konzert für wichtig. Man mag den Paja­rillo (ein typisch venzue­la­ni­scher Tanz, dem Joropo ähnlich) im dritten Satz hören und denken: „Oh, das ist wunderbar tanz­bare Musik.“ Aber das ist sie nicht wirk­lich. Es ist viel­mehr ein Versuch, ein Porträt meiner Kultur zu malen, mit allen Ecken und Kanten. Es ist wie ein vorge­hal­tener Spiegel, durch den ein langer Sprung geht. Man hört zwar den Mambo, aber man ahnt unter­schwellig die Belas­tungen … Und das sogar ziem­lich brutal.

CRESCENDO: Denken Sie schon an den Moment, in dem Ihr Konzert von jemand anderem aufge­führt werden wird?
Gabriela Montero: Bisher habe nur ich meine Stücke gespielt. Aber es wird inter­es­sant werden, sollte es dazu kommen. Weil es doch irgendwie wie bei einem eigenen Kind ist: Man muss lernen loszu­lassen. Ich vermute, das wird am Anfang schwierig sein … Es ist ja auch ein biss­chen so, wie ich das Leben sehe: Ich erschaffe etwas, ich entwerfe etwas – und dann gehe ich weiter.

»Es geht mir darum, Finger­ab­drücke zu hinter­lassen: Wie ich gelebt habe, was ich gesehen habe.«

Ich suche keine Unsterb­lich­keit, ich habe kein Inter­esse daran, der Kompo­nist mit dem größten Port­folio zu werden, ich habe kein Inter­esse daran, der größte Name in irgend­etwas zu werden. Es geht mir darum, Finger­ab­drücke zu hinter­lassen: Wie ich gelebt habe, was ich gesehen habe, was ich für wichtig halte – und darüber zu spre­chen. Gespräche anzu­stoßen, ja, zu provo­zieren. Und dann blät­tere ich um und mache weiter.
CRESCENDO: Sie wohnen in
Gabriela Montero: ja, eher mehr „überall“. Aber meine Garde­robe – zumin­dest ein Teil davon – ist in Barce­lona, ja. 
CRESCENDO: … und davor haben Sie in Kali­for­nien gelebt: Ist es wichtig, dass es, wo immer Sie leben, groß­ar­tigen Wein gibt?
Gabriela Montero: Um ehrlich zu sein, habe ich darüber nie wirk­lich nach­ge­dacht. Ich glaube, es sagt mir eigent­lich mehr über Sie. Aber ich mag Wasser – ich lebe auf jeden Fall gerne in der Nähe von Gewäs­sern. Und guten Flug­häfen. Und natür­lich guten Freunden, das ist das Wich­tigste!

Weitere Infor­ma­tionen: www​.gabrie​la​mon​tero​.com