Geschichte des europäischen Bühnenbilds
Bühnen Bild Zauber – eine Reise durch Zeit und Raum
14. September 2021
Bühnenbild und Szenografie sind eine große Kunst. Im Zusammenspiel mit Musik, Text und Regie formen sie das Gesamtkunstwerk Theater.
„Welch Schauspiel! aber ach! ein Schauspiel nur!“, ruft Goethes Faust beim Anblick der spektakulären Natur und sehnt sich danach zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ – zu Zeiten, als man selbst die Natur als ein „Theatrum“ verstand. Um die wahre Natur geht es im Theater nicht und nur selten um Erkenntnis. Wohl aber um die „Schau“ und das „Spiel“, um das Drama, den Krimi oder den grellen Spaß. Und vor allem um den Schein. „Das Publikum beklatscht ein Feuerwerk, aber keinen Sonnenaufgang!“, wusste bereits Friedrich Hebbel. Mag das Wort oder der Gesang die Figuren zeichnen und ihre Motivation vermitteln – für die Zeit und den Raum, in dem die Handlung spielt, braucht es das Bühnenbild. Für die Illusion sowieso. Ganz im Dienst dieser wird seit der Antike kräftig gehoben und gezogen.
Mittels des Bühnenkrans schwebt ein Gott auf die Spielfläche
Reste von Steinreihen auf der Orchestra, wie man die Bühne im griechischen Theater nannte, deuten darauf hin, dass im 5. Jahrhundert v.u.Z. schwere Holzkonstruktionen ein- und ausgefahren wurden: das einstöckige Proskenion, der eigentliche Bühnenhintergrund und dahinter die zweistöckige Skene, das Verwaltungsgebäude mit Umkleide und Arbeitsmaterialien. Die Zuschauer im Theatron, die mitunter von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang beisammen waren, wollten eine gute Show. Besonders spannend wurde es, wenn sich der Konflikt in der Tragödie auf der Bühne zuspitzte. Dann kam die Stunde des Mechanopeios, des Kranführers, der am linken Seiteneingang hinter der Bühne stand. Auf Anweisung des Dramatikers ließ er kurzerhand mit seinem Bühnenkran, der Mechane, einen Gott mitten auf die Spielfläche einschweben, den Deus ex machina (Gott aus der Maschine), die göttliche Instanz, die alles noch zum Guten wenden konnte. Denn nur durch „Jammer“, „Schaudern“ und Mitleid für die Figuren gelangte man zur Katharsis, zu einer Läuterung, wie Aristoteles es in seiner Poetik formuliert.
Auch im antiken Rom liebte man das Spektakel. Zur Einweihung des Kolosseums ließ Kaiser Titus im Jahr 80 n.u.Z. den hölzernen Arenaboden entfernen und die Fläche fluten, um eine Seeschlacht zu inszenieren. Später entstanden im Unterboden Einrichtungen wie Falltüren, Rampen und Aufzüge, die mit Winden und Flaschenzügen in kurzer Zeit ganze Wald- oder Wüstenlandschaften in die Arena befördern konnten.
Die phänomenale Theatermaschine von Heron von Alexandria
„Urvater aller Roboter“ und frühe Meister der Special effects war Heron von Alexandria (10–70 n.u.Z.). Seine phänomenale Theatermaschine beeindruckt noch heute: Ein dreirädriger Wagen mit einem ausgeklügeltem Seile-System, das von Bleigewichten und durchrieselndem Weizen gesteuert wurde. Nach Einwurf einer Münze konnte es Weihwasser spenden oder den Heronsball aktivieren: Dieses Wunder kam aus einem simplen Kessel mit kochendem Wasser. Der Dampf wurde über ein Rohr in eine leicht drehbare Kugel auf einer Halterung geleitet. An der Kugel befanden sich zwei Düsen, durch die der Wasserdampf austrat und die Kugel in Bewegung setzte – das sogenannte Rückstoß-Prinzip, das wie Magie wirkte.
Im Gegensatz zum griechischen Freilufttheater-Theater, das meist an einem erdigen Hang lag und keine ausgeprägte Fassade hatte, verfügte jedes römische Theater über eine scaenae frons: eine palastartige Bühnenfassade mit „gewaltigen Säulen aus dem lebendigen Fels“ geschlagen, wie Vergil den Protagonisten seiner Aeneis über den Bau eines Theaters in Karthago sprechen lässt. Die Prunkfassade ersetzte das Bühnenbild.
Auf drehbaren Achsen ein schneller Szenenwechsel
Faszinierend wie Gelehrte, Ingenieure, Architekten und Fürsten miteinander wirkten, wenn es um das Theater ging – von Vitruv (80–15 v.u.Z.) über Filippo Brunelleschi (1377–1446) bis hin zu Leonardo da Vinci (1452–1519). Vitruv entwarf die Periaktoi, dreiseitig bemalte Prismen aus Holz, die auf drehbaren Achsen einen schnellen Szenenwechsel ermöglichten und bis heute verwendet werden. Leonardo da Vinci baute Musikinstrumente, richtete große Feste am Mailänder Hof aus und entwarf 1490 die Drehbühne. 1896 wurde sie im Münchner Residenztheater eingesetzt, um trotz der schwerfälligen illusionistischen Ausstattungen rasche Szenenwechsel zu ermöglichen. Ihre künstlerische Bedeutung erkannte später Max Reinhardt, der dort Theaterstücke inszenierte.
Brunelleschi hatte mit seinen Experimenten zur Zentralperspektive die Malerei revolutioniert, mit dem Bau der Kuppel für den Dom von Florenz 1418 der Menschheit ein Wunder beschert. Noch war die Oper nicht „erfunden“, dafür gab es die Sacre Rappresentationi, Darbietungen von Märtyrer- und Heiligenlegenden. „Zur Verkündigung des Herrn“ in der Santissima Annunziata in Florenz ließ Brunelleschi 1439 Wolken mit Engeln und Heiligen über eine Flugbahn durch das Längsschiff der Kirche schweben. Kerzenlichter verbreiteten überirdischen Glanz, der durch die mit Stoffen behängten Arkaden durchschimmerte. Ein himmlisches Spektakel, das sich da unterm Kirchendach und über den Köpfen der Gläubigen abspielte. Spiritualität verband sich hier mit dem Prinzip der mittelalterlichen Simultanbühne, auf der alle Schauplätze nebeneinander aufgereiht sind, sodass der Zuschauer mit seinem Blick von einer Szene zur anderen wandern kann.
Von diesem Simultanprinzip ist auch die Winkelrahmenbühne im 16. Jahrhundert geprägt. Auf der Hinterbühne wurden perspektivisch bemalte Holzrahmen im rechten Winkel paarweise aufgestellt. Für jede Szene gab es ein Bühnenbild, für die scena tragica wählte man Herrschaftshäuser, für die scena comica Bürgerhäuser und für die scena satirica der pastoralen Idyllen und Satyrspiele Wälder und Landschaften. Gespielt wurde auf der kleinen Vorderbühne.
Ende des 16. Jahrhunderts werden in Oberitalien die ersten geschlossenen Theater gebaut. Inspiriert von Vitruvs Erzählungen entwirft Andrea Palladio (1508–1580) das Teatro Olimpico in Vicenza nach römischem Vorbild. Das Innere des Theaters simuliert das klassische Theater im Freien. Statt in die Bläue des Äthers zu blicken, schaut der Besucher auf eine Deckenmalerei, die den Himmel imitiert. Nach dem Tod Palladios vollendete Vincenzo Scamozzi (1548–1616) das Haus, das 1585 mit König Ödipus von Sophokles eröffnet wurde. Für die Première hatte Scamozzi eine Kulissenstadt entworfen, die das antike Theben imitiert. Nach der Aufführung blieb die imposante Kulisse stehen und dient seitdem als Bühnenbild. Mit ihren drei Portalen ist sie ein meisterhaftes Beispiel für das Spiel mit der Perspektive und der optischen Täuschung. Durch den schräg nach oben angehobenem Bühnenboden wirken die Häuser perspektivisch verkleinert und die tatsächliche Tiefe von nur zwölf Metern optisch um fast das Zwanzigfache vergrößert.
Nach dem Vorbild des Olimpico baut Giovanni Battista Aleotti (1546–1636) 1618 in Parma das Teatro Farnese. U-förmige Zuschauerränge fassen bis zu 3.000 Personen, die Arena kann mit Wasser befüllt werden. Für die Beleuchtung sorgten vier Silberleuchter mit zwei Metern Durchmesser mit Platz für je 300 Kerzen sowie weitere 1.000 Kerzen. Noch ist die Kohlenbogenlampe, die Prophetensonne, nicht erfunden, von der modernen Lichtdramaturgie ganz zu schweigen.
Steingewichte auf einer Zugvorrichtung holen den Teufel aus der Versenkung
Aleotti gilt auch als Erfinder der barocken Kulissenbühne, die über mehr als 200 Jahre die Bühnentechnik des europäischen Theaters bestimmen wird. Noch brauchte es einen Bühnenarbeiter, um die auf Holz gemalten oft bis in die Tiefe reichenden schweren Kulissenwände auf einer Schiene hin und her zu bewegen. Giacomo Torelli (1608–1678) perfektionierte das System. Bei der Eröffnung des Teatro Novissimo in Venedig mit La Finta Pazza von Francesco Sacrati verband er 1641 die Kulissen mit einem komplexen Flaschenzugsystem, das von einer Zentralwalze in der Unterbühne, dem sogenannten Schnürboden, gesteuert wurde. Vom Hafen von Skyros über einen öffentlichen Platz bis hin zur Stadtmauer – drei Kulissenflügel konnten direkt hintereinander abgespielt werden. Im Original kann man dieses System noch heute im Ekhof-Theater in Gotha und im Schlosstheater Drottningholm bewundern. Mögen die technischen Möglichkeiten heute auch anders sein, die Grundmechanismen bleiben die gleichen. Legte man damals Steingewichte auf eine Zugvorrichtung, um den Teufel aus der Versenkung zu holen, erledigt dies heute die computergesteuerte Hydraulik und Elektrik.
Himmel, Hölle, Lustgärten, Meeresstürme – von den Maschinen eines Nicola Sabbatini (1574–1654), der mit rotierenden Trommeln voller Erbsen den Regen simulierte bis zur caxa de truenos des spanischen Theaters, die hallte wie ein Donner; von den Spielereien mit der Perspektive, den Scheinarchitekturen mit ihren Straßen, die sich bis ins Unendliche fortsetzen, und den übereck gestellten Dekorationen eines Giuseppe Galli da Bibiena (1696–1757) – stets galt es, die Sinne zu verzaubern. „Drum schonet mir an diesem Tag Prospekte nicht und nicht Maschinen!“, ruft Goethes Faust (1808): „Gebraucht das groß- und kleine Himmelslicht, die Sterne dürfet ihr verschwenden; An Wasser, Feuer, Felsenwänden, an Tier- und Vögeln fehlt es nicht. So schreitet in dem engen Bretterhaus den ganzen Kreis der Schöpfung aus und wandelt mit bedächtger Schnelle vom Himmel durch die Welt zur Hölle!“
Bald spottete man bald über die Guckkastenbühne. Kasten nannte man sie auch deshalb, weil sie durch ihren Portalrahmen eine klare Trennlinie zwischen Bühne und Zuschauerraum zog. Die zum Publikum offene Seite nannte der Philosoph Denis Diderot (1713–1784) die „vierte Wand“. Die Illusion sollte im Kasten bleiben und nicht durch die unmittelbare Ansprache des Publikums aufgehoben werden, wie das in früheren Jahrhunderten durchaus üblich war. Die Vision eines „Totaltheaters“, einer Raumbühne für alle, wird Bauhaus-Gründer Walther Gropius erst 1926 entwerfen, aber nie realisieren.
Aller Kritik zum Trotz hielt man an der illusionistischen Guckkastenbühne fest – besonders in der Oper. Karl Friedrich Schinkel (1781–1841), der Meister des Klassizismus, plädierte für eine einzige Bildwand als Bühnenhintergrund und die Abschaffung der Kulissen sowie die Erweiterung des Prozeniums, der Vorbühne. Tatsächlich schuf er zwölf Bühnenbilder für eine Aufführung der Zauberflöte 1816 in der Staatsoper Unter den Linden.
Weg vom Illusionstheater wollten hingegen die Meininger in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie bemühten sich um die fotografisch exakte Wiedergabe der Realität. Zur Umsetzung beauftragten sie das Atelier für Theater-Decorations-Malerei der Gebrüder Brückner in Coburg, dessen zweiter „Großkunde“ Richard Wagner im nahen Bayreuth war. Doch Wagner stellte Forderungen, die kaum zu realisieren waren. Erst Adolphe Appias (1862–1928) Ring-Bühnenbild mit urgewaltigen Felsblöcken vor leerem Horizont etablierte einen „Wagner-Stil“ – und das ohne „Pappdeckel“, wie man spöttisch die Kulissenmalerei nannte. „Appia ist für uns alle im modernen Theater sehr wichtig“, sagt Regisseur Robert Wilson. „Sein Theater ist architektonisch konstruiert, mit einer unverhüllten Dynamik und schönen Proportionen. Er hat ein komplettes Vokabular für das Theater entwickelt.“
Szenische Kunst aus der Idee des Gesamtkunstwerks
Die endgültige Desillusionierung des Publikums gelang dann mit Bertolt Brechts (1898–1956) Epischem Theater. Brechts Bühnenbildner Caspar Neher (1897–1962) schuf dazu abstrakte Räume, die Bühnenbildner bis heute beeinflussen. Zudem erfand er die Brecht-Gardine, die einen Meter über dem Boden endete, so dass Abgänge und Umzüge beobachtet werden konnten.
Eine prägende Figur der Wiener Bühne um die Jahrhundertwende war Alfred Roller (1864–1935). Gustav Mahler holte ihn 1903 an die Wiener Hofoper. Gemeinsam entwickelten sie die szenische Kunst aus der Idee des Gesamtkunstwerks heraus, des Zusammenwirkens von Raum, Farbe und Licht mit Musik, Wort und Gestik. Roller stattete sämtliche Richard-Strauss-Erstaufführungen in Wien aus und auch den ersten Jedermann bei den Salzburger Festspielen 1920.
Anfang des 20. Jahrhundert kam der russische Impresario Sergej Diaghilev mit seiner Kompanie Ballets Russes nach Paris. Es gelang ihm, die Avantgarde für seine Tanz-Produktionen zu begeistern, darunter Pablo Picasso, Igor Strawinsky, Maurice Ravel, Eric Satie, Wassily Kandinsky und Henri Matisse – alle Revolutionäre auf ihrem Gebiet. Zehn Ballette stattete Léon Bakst (1866–1924) mit seinen märchenhaft farbenprächtigen vom Jugendstil geprägten Bühnenbilder aus. Auch Maler wie Joan Miró und Salvador Dalí arbeiteten für die Bühne.
Der italienische Maler Giorgio de Chirico (1888–1978) reagierte allerdings beleidigt, als man seine Werke mit Bühnenbildern verglich. Bei ihm hatte Teo Otto (1904–1968) studiert, einer der bedeutendsten Bühnenbildner des 20. Jahrhunderts, der unter anderem viele Opern mit Herbert von Karajan ausstattete.
Ein „Mann für alle Räume“ wird Jürgen Rose (*1937) genannt. Sein Schaffen reicht von fantasievollen Tierkostümen für das Schlaue Füchslein über den Faust-Pappmachékopf mit beweglicher Zunge bis hin zum puristisch mit Leinen verhangenen leeren Raum für Le Nozze di Figaro an der Bayerischen Staatsoper 1997. Mit bemalten Tüllen wiederum arbeitet Erich Wonder (*1944) – wie einst Brunelleschi.
Doch es finden auch Materialschlachtenauf heutigen Bühnen statt. Monumentale Bühnenbilder, über 30 Tonnen schwer, sind keine Seltenheit. Alles scheint möglich im Multimedia-Zeitalter. Etliche Produktionen wirken „überinszeniert“, „überausgestattet“. Der Verdacht drängt sich auf: Je üppiger das Budget, umso weniger traut man dem Wort und der Musik.
„Die ganze Welt ist eine Bühne“, sagt Jacques in Shakespeares As You Like it. Im Globe Theater in London gab es keine Kulissen, spielte man im leeren Raum ohne Bühnenbild und Effekte. Einzige Ausnahme: eine Falltür zu einem Raum unter der Bühne für den Geist von Hamlets Vater. Auf Brettern standen die Schauplätze geschrieben: „Eine Straße in Venedig“ oder „Die Hauptstadt von Cypern“. Alles andere besorgte die Dichtung des größten Dramatikers aller Zeiten.