Ich hatte Glück: den ersten „Tristan“ von Sawallisch dirigiert zu hören; die erste „Zauberflöte“, „Elektra“, den ersten „Figaro“, „Ring“ … sowie Brahms‑, Beethoven‑, Bruckner-Symphonien und die Missa Solemnis zum ersten Mal … Das musikalische Repertoire ist groß und die Ohrendefloration geschah immer auf höchstem und schönstem musikalischem Niveau: durch Wolfgang Sawallisch. Das prägte! Bis heute! Es ist erlaubt, dafür ganz persönlich dankbar zu sein. Es ist jedem erlaubt, der „mit“ und „durch“ Wolfgang Sawallisch die Musik kennen und lieben lernte.
Auch wenn Sawallisch in der ganzen Welt dirigierte, ihm in Japan eine geradezu fanatische Verehrung entgegenschlug und die Mailänder Scala nach seinen Dirigaten vor Jubel tobte (zum Beispiel nach „Frau ohne Schatten“ oder 1990 nach den „Meistersingern“), am meisten Gelegenheit mit diesem uneitlen, präzisen, diesem leidenschaftlichen und doch unpathetischen großen Künstler Musik zu (er)leben, hatte man in der Münchner Oper: Hier, am Pult des Bayerischen Staatsorchesters in München stand Wolfgang Sawallisch seit 1971 für zwei Jahrzehnte – zunächst als Generalmusikdirektor mit den Intendanten Günther Rennert und August Everding, später als Staatsoperndirektor.
In diesen Jahren dirigierte er oftmals an vier Abenden in der Woche (an zwei weiteren standen Carlos Kleiber und Karl Böhm am Pult). Wolfgang Sawallisch, der schon 1957 in Bayreuth debütierte (Mitschnitte von „Holländer“, „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ gelten heute noch als Referenzaufnahmen) war – über jeden Zweifel erhaben – „der“ Wagner- und Strauss-Dirigent seiner Zeit. Über die Provinz, über Augsburg, Aachen, Wiesbaden, Hamburg kehrte der gebürtige Münchner nach München zurück; diese Stadt, ihr Opernhaus, das Nationaltheater, blieben sein Zentrum, als er längst in Salzburg, Wien, Mailand und New York mit den Wiener oder Berliner Philharmonikern Triumphe feierte.
„Sein Name ist wie kein anderer mit der Münchner Oper verbunden, bis heute ist sein Wirken spürbar – und so wird es auch bleiben. Dies gilt nicht nur für das Publikum, sondern vor allem auch für die Mitglieder des Bayerischen Staatsorchesters und alle Mitarbeiter des Hauses“, so Staatsintendant Nikolaus Bachler zu Wolfgang Sawallischs Tod. Als der Dirigent, der auch ein singulärer Pianist und Liedbegleiter war, 1992 für zehn Jahre als Chef an das wundervolle Philadelphia Symphony Orchestra wechselte, um sich nur noch der „absoluten“ Musik, dem Konzert, zu widmen, da war dies auch ein Zeichen seiner Resignation vor neuen Richtungen der Oper als Musiktheater. „Auf geht’s zum Komödienstadl“, rief ein Zuschauer in der Münchner Oper, als Sawallisch zur Première vom „Fliegenden Holländer“ im Januar 1981 ans Dirigentenpult trat. Über die Bühne ging damals eine geniale Produktion des Regisseurs Herbert Wernicke, die dem Dirigenten im Orchestergraben ebenso fremd blieb wie dem krakeelenden Zuhörer in seinem Nacken. Wolfgang Sawallisch war Musiker und als dieser ein Künstler, dessen Größe auf einer Tugend beruhte, die in Zeiten von Marketing und PR verloren zu gehen droht: Handwerk! Das große, souverän und uneitel vermittelte Können dieses Dirigenten, seine geradezu unglaubliche Repertoirekenntnis und Bescheidenheit erlaubten es ihm, sich der Partitur unterzuordnen; ja, „der Musik zu dienen“. Das klingt antiquiert und ist es wohl auch. Der deutsche Kapellmeister als charismatischer Weltstar – er ist mit Wolfgang Sawallisch nicht nur gestorben – er ist mit ihm auch ausgestorben.