Gidon Kremer

Gerech­tig­keit für Wein­berg

von Corina Kolbe

2. Juni 2019

Gidon Kremer zählt zu den größten Geigern. Umso mehr wiegt die Wertschätzung, die er Mieczysław Weinberg zu dessen 100. Geburtstag schenkt: Mit einer Weltersteinspielung ehrt er den Komponisten.

Für die Musik der Gegen­wart hat sich schon früh voller Leiden­schaft einge­setzt. In der Sowjet­union traf der gebür­tige Lette Künstler aus Russ­land und Osteu­ropa, die sich ihre Frei­räume in dem tota­li­tären Staat täglich neu erobern mussten. „Ich inter­es­sierte mich damals vor allem für Kompo­nisten wie Alfred Schnittke, Sofia Gubai­du­lina, Arvo Pärt oder , die alle im Unter­grund arbei­teten“, erin­nert sich Kremer. Mit den Werken von begann er sich erst viel später zu beschäf­tigen. „Als ich in den 60er-Jahren in Moskau studierte, erlebte ich ihn zwar als Pianist mit meinem Lehrer David Oistrach, dem Cellisten Mstislaw Rostro­po­witsch oder der Sopra­nistin Galina Wisch­news­kaja. Doch leider habe ich es versäumt, ihn persön­lich kennen­zu­lernen.“ Erst nach der Grün­dung seiner 1997 entdeckte der welt­be­kannte Geiger allmäh­lich Wein­bergs umfang­rei­ches Oeuvre. 154 seiner Werke sind erhalten, darunter 22 Sinfo­nien, vier Kammer­sin­fo­nien, sechs Opern sowie Ballette, Film- und Zirkus­musik. „Auf der Suche nach Stücken für mein Ensemble machte ich Ausflüge in die Welt der unbe­kannten Musik. Wein­berg war zu dem Zeit­punkt schon tot. Mitt­ler­weile habe ich an die 15 Werke von ihm gespielt.“

Lange unter­schätzt

Zum 100. Geburtstag des Kompo­nisten im Dezember hat Kremer zum ersten Mal die 24 Prälu­dien, die Wein­berg für Rostro­po­witsch schrieb, in seiner eigenen Bear­bei­tung für Violine aufge­nommen. „Die Musik­welt hat ihn lange Zeit stark unter­schätzt. Zu seinem Geburtstag möchte ich ihm Gerech­tig­keit wider­fahren lassen.“ Warum Rostro­po­witsch das ihm gewid­mete Werk nie aufge­führt hat, weiß Kremer nicht. Er selbst wurde erst durch andere Cellisten darauf aufmerksam. „Als ich dann hörte, dass eines der Prälu­dien einen Bezug zu Schu­mann hatte, klickte es plötz­lich bei mir. Ich beschloss, den Zyklus für Violine zu setzen. Damit ist ein neues Werk entstanden, das hoffent­lich viele Geiger animieren wird, diese Musik zu spielen.“


Auf einem kleinen abge­le­genen Landgut im äußersten Osten Litauens hat Kremer die Prälu­dien auf CD einge­spielt. „Dieser Ort vermit­telt die Inti­mität und Ruhe, die diese Musik braucht, um auf uns zu wirken.“ Wenn er den Zyklus im Konzert aufführt, werden dazu oft eindring­liche Schwarz-Weiß-Bilder des litaui­schen Foto­grafen Antanas Sutkus an die Bühnen­wand proji­ziert. „Es ist nicht einfach, beides mitein­ander in Einklang zu bringen“, erzählt er. „Die wunder­baren Fotos kommen und gehen, während ich weiter­spiele. Sie sollen nicht von der Musik ablenken, sondern das Hörerlebnis inten­si­vieren. Im Grunde geht es um Emotionen, die Töne und Bilder glei­cher­maßen auslösen können.“ Die Prälu­dien und die Bilder sind als Brücke zu einer Welt gedacht, die es heute nicht mehr gibt. Das Projekt trägt daher den bezie­hungs­rei­chen Titel „Preludes to a lost time“, in Anleh­nung an Marcel Prousts lite­ra­ri­sches Meis­ter­werk Auf der Suche nach der verlo­renen Zeit. Der Mitschnitt eines Konzerts im Gogol Center in Moskau ist in Paul Smacznys Film­por­trät Gidon Kremer – Finding Our Own Voice zu sehen, das im Mai als DVD heraus­bringt.

Flucht, Vertrei­bung und Verfol­gung

Die Gründe, warum Wein­berg lange Zeit ein Schat­ten­da­sein führte, sind viel­fältig. Die Erfah­rung von Flucht, Vertrei­bung und Verfol­gung hat sein Leben tief geprägt. Im Dezember 1919 in geboren, schrieb der Sohn eines Musi­kers seine ersten Stücke bereits als Jugend­li­cher und studierte am Konser­va­to­rium Klavier. Wegen seiner jüdi­schen Herkunft floh er bei Ausbruch des Zweiten Welt­kriegs vor den Nazis in die weiß­rus­si­sche Stadt Minsk, wo er sich bei Wassili Solo­tarjow, einem Schüler von , in Kompo­si­tion ausbilden ließ. Als die Wehr­macht im Sommer 1941 die Sowjet­union über­fiel, rettete er sich nach Tasch­kent in . Seine Eltern und die jüngere Schwester, die in geblieben waren, wurden im KZ ermordet.
Als auf Wein­bergs Erste Sinfonie aufmerksam wurde, lud er den jungen Künstler 1943 nach Moskau ein, wo er bis zu seinem Tod 1996 lebte. Wein­berg hatte ein enges Verhältnis zu seinem Mentor. Die düstere Grund­stim­mung, die Schost­a­ko­witschs Werke durch­zieht, ist auch bei Wein­berg zu spüren. Die Freund­schaft zwischen ihnen habe immer wieder Anlass zu Miss­ver­ständ­nissen gegeben, bedauert Kremer. „Oft hieß es, Wein­berg sei ledig­lich Schost­a­ko­witschs Schüler und ein zweit­ran­giger Kompo­nist gewesen. Dabei spricht vieles dafür, dass sie sich gegen­seitig beein­flusst haben. Das erkennt man beispiels­weise bei Wein­bergs Zehnter Sinfonie, die kurz vor Schost­a­ko­witschs 14. Sinfonie entstand“, erklärt er. „Wein­bergs Sinfonie wurde zwar ohne Sänger und Schlag­werk konzi­piert, doch der Einsatz der Streich­in­stru­mente ist ähnlich wie bei Schost­a­ko­witsch. Ich denke, dass sie Brüder im Geiste waren und dass sie das, was sie an der ­Realität störte, in ihre Musik hinein­pro­ji­zierten.“

Im Visier der sowje­ti­schen Behörden.

Wie Schost­a­ko­witsch geriet auch Wein­berg wegen seines Kompo­si­ti­ons­stils ins Visier der sowje­ti­schen Behörden. Ihm wurden „forma­lis­ti­sche Tendenzen“ vorge­worfen, weil seine Werke nicht der offi­zi­ellen Kultur­dok­trin entspra­chen. Um finan­ziell zu über­leben, schrieb er Film- und Zirkus­musik. Wein­berg wurde in der Sowjet­union nicht nur wegen seiner polni­schen Herkunft diskri­mi­niert. Er bekam auch anti­se­mi­ti­sche Kampa­gnen am eigenen Leib zu spüren. Sein Schwie­ger­vater Solomon Mich­oels, Gründer des Moskauer Jüdi­schen Thea­ters, starb 1948 bei einem Mord­an­schlag, den die Geheim­po­lizei als Auto­un­fall insze­niert hatte. 1953 wurde der Kompo­nist unter dem Vorwand inhaf­tiert, sich für die Ausru­fung einer jüdi­schen Repu­blik auf der Krim einge­setzt zu haben. Der selbst vom Régime drang­sa­lierte Schost­a­ko­witsch forderte in einem mutigen Brief die Frei­las­sung des Freundes. Die Gefäng­nis­tore öffneten sich für ihn aber erst nach dem Tod Stalins einige Monate später. Einem größeren Publikum wurde Wein­berg posthum bekannt, als die szeni­sche Urauf­füh­rung seiner Oper Die Passa­gierin 2010 bei den Bregenzer Fest­spielen als Sensa­tion gefeiert wurde.

Gidon Kremer enga­giert sich dafür, Wein­bergs Musik in die Welt hinaus­zu­tragen. Zu seinem 70. Geburtstag und zum 20-jährigen Bestehen der Kremerata Baltica spielten Kremer und sein Ensemble 2017 alle Kammer­sin­fo­nien Wein­bergs sowie das Klavier­quin­tett op. 18 mit der Pianistin ein. Anfang Mai erscheint ein Doppel­album, auf dem das unter Leitung seiner Chefin gemeinsam mit der Kremerata zu hören ist. „Neben der Zweiten Sinfonie, einem Jugend­werk, haben wir die letzte voll­endete Sinfonie mit dem Beinamen Kaddish aufge­nommen. Ein unglaub­li­ches Werk!“, schwärmt Kremer.

Hommage mit visu­ellen Elementen

Mit seinem Kammer­or­chester plant er in diesem Jahr noch eine Wein­berg-Hommage, die mit visu­ellen Elementen verbunden ist. Im Juni wird diese Perfor­mance beim in ihre Welt­pre­miere erleben. Der Titel „Chro­nicle of Current Events“ ist eine Anspie­lung auf eine Zeit­schrift, die in der Sowjet­union in den 70er-Jahren im Unter­grund zirku­lierte. „Bei der Auffüh­rung werden wir Videos zeigen, die russi­sche Künstler in Zusam­men­ar­beit mit dem in Russ­land inhaf­tierten Regis­seur Kirill Serebren­nikow gemacht haben“, verrät Kremer. „Wein­bergs Musik wird keine bloße Zuspie­lung zu den Bildern sein, sondern die Bilder werden unter dem Eindruck der Musik entstehen. Auch mit diesem Expe­ri­ment wollen wir dazu beitragen, seinen 100. Geburtstag würdig zu feiern.“

Miec­zysław Wein­berg: „24 Preludes“, Gidon Kremer (Accentus)

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Fotos: Angie Kremer Photography/DG