Gustave Flaubert
Geniale Flegeleien
von Roland H. Dippel
1. Februar 2022
Gustave Flaubert gilt als der Begründer des Realismus im französischen Roman. Seine „Mémoires d’un fou“ schrieb er bereits als 17-Jähriger. Elisabeth Edl hat den Roman neu auf Deutsch übersetzt.
Gemeinsam sind sie der französischen Literatur verfallen. Gemeinsam wirkten sie bis 1995 an der Universität von Poitiers, und gemeinsam sind sie subtile Raumreisende in ihrem anspruchsvollen Literatur-Universum. Von 1995 bis 2020 arbeitete Wolfgang Matz als Lektor beim seine Spitzenstellung im Segment superbe Belletristik aggressiv verteidigenden Hanser Verlag. Seit Jahrzehnten veröffentlicht er mit seiner Frau Elisabeth Edl dort und bei anderen Edel-Verlagen eine wort- und stilgewaltige Übersetzung nach der anderen.
Dieses Co-Branding eines partnerdynamischen Geistkapitals ergibt natürlich auch enorme intellektuelle Geistrenditen – zum Beispiel für Lesende, die alles über Anna Karenina, Madame Bovary und Effi Briest, die drei großen Ehebruchromane des 19. Jahrhunderts, oder Yves Bonnefoy wissen wollen. Den 200. Geburtstag von Gustave Flaubert (1821–1880) feiern Edl und Matz mit einer Neuübersetzung von dessen erstem veröffentlichten Roman. Damit setzen sie die Reihe von dessen seit Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenen Eindeutschungen durch Rudolf Soomer, Antje Ellermann, Eva Rechel, Traugott König sowie Else und Hans Bestian fort.
Beigegeben sind dieser Darstellung einer Liebe von Flauberts poetischem Ich zu einer um zehn Jahre älteren Frau seine das Sujet betreffenden Jugendbriefe. Ein langes Nachwort und ein umfangreicher Anmerkungsapparat steigern die Neugier auf Leben und Werk des rhetorischen Cholerikers, Sittenspieglers und Zivilpessimisten. Man geht nicht falsch, diesen hier Memoiren eines Irren betitelten Kurzroman als Flauberts individuelle und in ihrer Art nicht minder drastische Reflexion der Werther-Konstellation zu verstehen: In genüsslicher Breite stellt Matz Flauberts schon früh ausgeprägte Neugier auf die Beobachtung von zur Sezierung freigegebenen Leichen dar. Auch die messerscharfen Textflegeleien, welche die spätere Genialität des Romanciers ankündigen, breiten Edl und er mit Aufmerksamkeit für philologische Details aus.
Auf das vom Verlag für die physische Edition angekündigte „Lesebändchen“ müssen Nutzende des eBooks allerdings verzichten. Die von Hanser kultivierte Exklusivität übermittelt sich nur durch das haptische Buchmaterial. Das kommt einem Beitrag zur literarischen Klassengesellschaft gleich, gegen die Flaubert aus seiner selbstgewählten Isolation bekanntermaßen so manche Sottisen geschossen hatte. Auch solche Erbosungen über Bagatellangelegenheiten tragen zu Flauberts belletristischer Singularität bei. Einige Leser werden sich fragen, ob Matz im Hinblick auf eine temporäre Liebesbeziehung das Wort „Kristallisationspunkt“ im Sinne Stendhals oder nach eigenen Definitionskriterien verwendete.