György Ligeti

„Über Musik spricht man nicht”

von Teresa Pieschacón Raphael

26. April 2023

Am 28. Mai 2023 würde Ligeti 100 Jahre alt. In einem seiner letzten Interviews äußert er sich tatsächlich kaum zu seiner Musik, was es zu einem fast historischen Dokument macht.

Es ist ein Inter­view gerade mal drei Jahre vor seinem Tod in Hamburg, also eines der letzten. Der Kompo­nist im legeren Pull­over mit zerzauster Frisur, streicht sich immer wieder die wider­bors­tigen Haare ins Gesicht, als wolle er nicht gesehen werden. Doch der skep­ti­sche Zug um die vollen Lippen spricht eine eindeu­tige Sprache. Und die können gegen­über Jour­na­listen recht unwirsch sein, wie zum Beispiel „Stellen Sie inter­es­san­tere Fragen!“ Er ist eben ein Mann, der, geprägt von drama­ti­schen Erfah­rungen, nicht an große Ideen oder Ideo­lo­gien glaubt. Er ist ein Kompo­nist mit eigener Klang­sprache, der sich der Musik-Avant­garde entzieht, die aus allem ein Dogma macht und zur Doktrin erhebt. Appa­ri­tions (1958/59) oder Lontano (1967) sind nur einige Beispiele für seine „Klang­farben-Kompo­si­tionen“ – nahezu unbe­weg­liche Musik, die dennoch innere Bewe­gung ahnen lässt. Atmo­sphères (1961) und Lux aeterna (1966) brachten ihm wenn auch kein Geld, so doch viel Ruhm, als Stanley Kubrick dieses Stück zum Sound­track seiner Odyssee im Welt­raum machte.

»Über Musik spricht man nicht. Das ist eine nonver­bale Kunst.«

Herr Ligeti, Sie haben sich mehr­fach zu Ihrer Musik geäu­ßert …

Leider! Ich wurde gezwungen! Über Musik spricht man nicht. Das ist eine nonver­bale Kunst. Jetzt aber zwingen Sie mich auch.

Aber nein! Viel­leicht spre­chen wir darüber, wer Sie geprägt hat? Ihre Eltern?

Mein Vater hatte Jura und Poli­to­logie studiert, wurde dann Direktor einer Bank­fi­liale in Klau­sen­burg in Rumä­nien. Er hasste seinen Beruf. Seine Bank wurde in eine Staats­lot­terie verwan­delt. War mein Vater also ein Lotte­rie­ver­käufer? Er schrieb Bücher über Natio­nal­öko­nomie, Ethik und einen Roman über eine Gesell­schaft ohne Geld. Meine Mutter war Augen­ärztin.

Sie hatten einen jüngeren Bruder.

Er wurde im Konzen­tra­ti­ons­lager Maut­hausen getötet, als er 17 Jahre alt war. Er ist nicht gestorben, sondern er wurde getötet. Das ist die größte Trauer meines Lebens.

Wie konnten Sie sich retten?

Ich hatte Glück, war 1944 in der unga­ri­schen Armee. Dann in sowje­ti­scher Gefan­gen­schaft. Während eines Flie­ger­an­griffs sind nicht nur die Wärter geflohen, sondern auch wir, die Gefan­genen. Zu Fuß kam ich nach Klau­sen­burg zurück, wissend, dass ich meine Familie dort nicht finden würde.

In einem Inter­view sagten Sie, Sie seien fast hundert Mal getötet worden …

Fast wäre ich von den Nazis auch ins Konzen­tra­ti­ons­lager gesteckt worden. Und dann die schreck­li­chen Bomben­at­ta­cken. Die Erin­ne­rungen sind immer da. Ich schlafe sehr schlecht, immer mit Schlaf­ta­bletten.

Was geschah mit Ihren Eltern?

Mein Vater starb mit 54 Jahren im Konzen­tra­ti­ons­lager Buchen­wald an Typhus. Meine Mutter über­lebte Ausch­witz und starb mit 89 Jahren.

Wie ging es mit Ihnen weiter?

Von 1945 bis 1948 standen wir unter sowje­ti­scher Besat­zung – in einer zunächst frei gewählten demo­kra­ti­schen Regie­rung. Ab dem Sommer 1948 „verschwanden“ allmäh­lich alle Abge­ord­neten, die nicht in der kommu­nis­ti­schen Partei waren. Der Druck wurde immer größer bis hin zur stali­nis­ti­schen Diktatur.

»Der Tod hat mich stets auch musi­ka­lisch beschäf­tigt.«

Während des Aufstandes 1956 sind Sie in den Westen geflohen. Was hatten Sie im Gepäck?

Mein Streich­quar­tett und Skizzen.

Was war der gefähr­lichste Moment?

Bis Stalins Tod 1953 gab es jeden Tag Hinrich­tungen. Die Verzweif­lung der Menschen führte zum unga­ri­schen Volks­auf­stand – 2.500 Tote auf unserer Seite. Ich habe aber nicht geschossen.

Liegt es an diesen exis­ten­zi­ellen Erfah­rungen, dass Sie bereits mit Anfang 40 ein Requiem (Urauf­füh­rung 1965) kompo­nierten?

Der Tod hat mich stets auch musi­ka­lisch beschäf­tigt, schon in Buda­pest. Das hat mit dem Tod meines Bruders zu tun und der Verfol­gung der Katho­liken, bei der ich als Spitzel mitwirken sollte. Deshalb verwen­dete ich Teile der latei­ni­schen Toten­messe für das Requiem, das Sie anspre­chen.

Wie finden Sie es eigent­lich, dass viele deut­sche Intel­lek­tu­elle bis heute den Kommu­nismus idea­li­sieren?

Ja ja, Herbert Marcuse und so … Ich hatte nur Verach­tung für ihn. Dass die PDS in Berlin regiert, ist ein Skandal. Die 68er um Adorno, Habermas, habe ich als lächer­lich empfun[1]den, über­haupt die ganze Studenten[1]bewegung. „Der Ligeti ist ein Spion der CIA“, hat einmal ein deut­scher Jour­na­list über mich geschrieben!

Wie muss man sich den Alltag eines Kompo­nisten vorstellen? Wie im Melo­dram: Kompo­nist macht Spazier­gang, die Einge­bung kommt und schon steht die Sinfonie?

Ach was! Diese Heroi­sie­rung stammt von Romain Rolland. Es gibt Eingebun[1gen, es gibt auch Spazier­gänge … Nur kann ich die jetzt, da mein linker Fuß operiert wurde, nicht machen. Man braucht eine Vorstel­lung, und die versucht man, mit der Technik zu formen, die man gelernt hat. Ich bin absolut undis­zi­pli­niert. Früher, in Wien, in obskuren Keller­zim­mern, bin ich um vier Uhr schlafen gegangen. Seitdem ich in Hamburg unter­richte, ist das anders.

»Meine Oper Le Grand Macabre empfinde ich als Fehl­tritt. Ein Schwä­che­an­fall.«

Beet­hoven sagte zum Geiger : „Was kümmert mich seine elende Geige, wenn der Genius zu mir spricht?“ Inter­es­siert Sie der Inter­pret?

Als mein Lieb­lings­pia­nist, , beim WDR meine sehr schweren Etüden spielte, kam im Foyer ein Mensch auf mich zu: „Aber diese Stücke sind unspielbar, Herr Ligeti.“ „Sie haben sie doch gerade gehört“, sagte ich ihm. „Trotzdem“, sagte er, „sind sie unspielbar.“ Wunderbar, nicht?

Ihre phone­ti­schen Aven­tures nannten Sie eine Missetat.

Aven­tures nicht. Aber meine Oper Le Grand Macabre empfinde ich als Fehl­tritt. Ein Schwä­che­an­fall. Stra­winsky sagte: „I Iove my music.“ I don’t love my music – leider.

2006 starb György Ligeti in Wien im Alter von 83 Jahren.

Fotos: Peter Andersen