Hans Neuenfels
Er war der Größte – ein persönlicher Nachruf
von Axel Brüggemann
7. Februar 2022
Der Regisseur und Autor Hans Neuenfels ist tot. Er starb im Alter von 80 Jahren in Berlin.
Wir saßen auf dem roten Teppichboden der Komischen Oper, beide einen Kaffeebecher in der Hand – bis oben hin gefüllt mit Weißwein, den Hans Neuenfels uns noch aus der Kantine organisiert hatte. „Könnte ja ein längeres Gespräch werden“, sagte er. Damals ging es um Mozart, er hatte gerade die Zauberflöte inszeniert, dieses Mal nicht mit abgeschlagenen Propheten-Köpfen von Poseidon, Christus, Mohammed oder Buddha wie bei seinem Idomeneo an der Deutschen Oper, sondern – ganz Neuenfels – mit allerhand Gummi-Penissen.
Als wir da so saßen und über das Saufen sprachen und über das Rauchen, wurde er irgendwann ganz ernst. „Der Tod“, sagte er, „ist für mich die größte aller Ängste.“ Nur Mozart habe gewusst, wie man mit ihm umgehe – als Normalität! „Nicht einmal im Requiem bietet er uns Erlösung an“, philosophierte Neuenfels, „Mozart macht uns klar, dass wir die Dinge auf Erden zu erledigen haben, dass wir als Kreaturen durch den Dreck krabbeln müssen – und darin noch Schönheit erkennen sollen.“
Hans Neuenfels hat uns immer wieder – ganz Mozart – gezeigt, dass die wahre Schönheit des Menschen in seiner Kreatürlichkeit liegt, in seinem Exzess, in seiner Schwäche, in seiner Gewalt, in seiner Sexualität, in seiner Lust. Und anders als so viele andere Regisseure hat Hans Neuenfels nie Schubladen entwickelt, in denen er seinen Kosmos sortiert hat, um sie von Aufführung zu Aufführung neu heraus zu ziehen.
Neuenfels hat jedes Stück immer wieder ganz von vorn gedacht, aus seinem Jetzt heraus, aus seiner Welt – aus unserer Zeit.
Nur so konnte er Regie-Ikonen und geflügelte Bilder erschaffen, die uns noch heute begleiten: Seine Aida als „Putzfrau“ in Frankfurt zum Beispiel oder seine Lohengrin-Ratten für Bayreuth: Für Neuenfels war Gott böse, wenn er einen Ritter auf die Welt schickte, um die Menschen – ja sogar die eigene Frau – auf eine Prüfung zu stellen. Also legte er Lohengrins Ankunft auf Erden als grässliches Experiment an, als Experiment der göttlichen Wissenschaft mit uns schwachen Menschen als Ratten!
Was habe ich Hans Neuenfels ausgebuht! In Stuttgart für seine Meistersinger und in Salzburg für seine Fledermaus. Und wie oft bin ich danach ins Bett gegangen und mit einem vollkommen anderen Bild aufgewacht – Neuenfels« Inszenierungen haben verstört, haben uns den Spiegel vorgehalten, uns wütend gemacht. Und wenn wir begonnen haben, über sie nachzudenken, haben sie (und welche Kunst kann das schon!) unser Leben verändert. Und am liebsten wäre ich am nächsten Tag noch einmal in die Oper gefahren und hätte gejubelt.
Hans Neuenfels war uns so nah, dass wir ihn gehasst haben, bevor wir ihn lieben lernten.
Der Typ aus Krefeld, der Student der Folkwang in Essen, der Max-Ernst-Assistent und der kongeniale Voklksbühnen-Macher (was ist aus deinem Haus geworden!?!), der andauernde Verwirrer hat mir (und vielen anderen) beigebracht, warum es so wichtig ist, die Oper immer wieder ins Jetzt zu stellen. Sie zu uns zu bringen. Zu den Menschen!
Hans Neuenfels lebte die Kunst. Aber die Kunst war nie sein einziges Leben. Einmal erzählte er mir die Geschichte, wie er mit Jürgen Flimm im Krankenhaus lag, wie die beiden Reißaus nahmen, einen Berg hinauf stiegen, auf das Grab seiner Eltern blickten, und Flimm sagte: „Weißt Du was, was mir wirklich Sorge macht?“ Und Neuenfels dachte, nun würde er eine Lebens-Offenbarung hören. Stattdessen erklärte Flimm ihm: „Ich habe keine Ahnung, was nach Salzburg kommen soll.“ Solche Situationen haben Hans Neuenfels zum Lachen gebracht: „Da steht Du kurz vorm Abnippeln, und der Mensch denkt nur an seine Karriere.“
Hans Neuenfels war ein Theatermann, aber immer auch ein Familienmensch: Er liebte es, wenn er seine Frau Elisabeth Trissenaar in Szene setzen konnte, wenn die Welt um ihn herum Familie war.
Damals, als wir in der Komischen Oper auf dem roten Boden saßen und Weißwein tranken, hatte er noch Angst vor dem Tod. „Weil ich mit dieser Welt noch nicht fertig bin“, erklärte er mir, „weil ich immer wieder feststelle, dass ich etwas Neues erkenne, meist an mir selbst, dass ich noch immer über mich staune und selbst im Alter neugierig auf die Welt bin.“
Nun ist Hans Neuenfels gestorben. Mozart, hat er gesagt, stellte er sich immer als „eine Art Vorsokratiker vor, der an einem lauen, dunkelblauen Sommerabend Weißwein trinkt, einen Gedanken zu Ende denkt und nebenbei mal eben alle Libretti komponiert. Er folgt der vorchristlichen Idee des ‚panta rhei‘. Für ihn fließt alles in den geordneten Bahnen der Überraschungen – und es ist nicht ausgeschlossen, dass irgendwann ein Strudel vorbeikommt, in dem man absäuft.“ Hans Neuenfels ist abgesoffen. Und alles fließt – noch immer.