Simone Young
Verstörend schön
von Roland H. Dippel
9. Februar 2022
Hans Werner Henze schuf mit seiner Oper „Das verratene Meer“ ein faszinierend geheimnisvolles Werk. Der Mitschnitt aus der Wiener Staatsoper mit Simone Young am Pult liegt auf einer Doppel-CD vor.
Yukio Mishimas Roman Der Seemann, der die See verriet aus dem Jahr 1963 fasziniert durch seinen lapidaren Stil. Aber Mishima brüskiert auch, zum Beispiel wenn der pubertierende Noboru seine Mutter und deren zukünftigen zweiten Mann bei intimen Handlungen belauert. Seinem Stiefvater will Noboru den Rückzug aus seinem Beruf nicht verzeihen. Denn ein Seemann ist bestimmt für das Meer. Also plant eine Knabenbande, zu der Noboru stößt, in Besinnung auf altjapanische Ehrbegriffe die Ermordung des an Seite der Boutiquenbesitzerin Fusako einen emotionalen Hafen suchenden Ryuij. Wie in Benjamin Brittens Peter Grimes wird das Meer durch sinfonische Zwischenspiele zum sprachlosen Protagonisten der Oper. Bei Hans Werner Henze, der dazu über die machtvollen musikalischen Mittel verfügte, und in Hans-Ulrich Treichels Textbuch ist Unausgesprochenes ebenso wichtig wie das Gesagte.
Der Mitschnitt entstand bei einem Livestream aus der Wiener Staatsoper im Dezember 2020. Die Publikumspremiere folgte kurz vor der CD-Veröffentlichung im September 2021. Die kongeniale Besetzung könnte der seit ihrer Uraufführung 1990 an der Deutschen Oper Berlin trotz mehrerer Bearbeitungen durch Henze nicht besonders erfolgreichen Oper endlich zum verdienten Durchbruch in der Gunst von Theatern und Publikum verhelfen. Simone Young bringt Henzes Klangverführungen mit Aufmerksamkeit für koloristische Details zum Klingen und bereitet der ausgezeichneten Besetzung einen kristallinen wie pulsierenden Orchesterboden.
In der schwierigen Partie des Noboru passt weder ein Rowdy noch ein Duckmäuser. Für die Knabenbande mit den unkontrollierbar entgleitenden Mordabsichten stellte sich Henze einen Mittelschichts‑, keinen Brennpunkt-Hintergrund vor. Passend hat Josh Lovell noch einen Hauch Jungenhaftigkeit und sogar sanftes Staunen in der Stimme, aber kaum Gewalt. Auch durch Lovells weich-gläsernen Gesang drängt sich der Eindruck einer Nähe zu Britten auf. Bo Skovhus modelliert nach den von ihm faszinierend erschlossenen Herrscherpartien Lea und Karl V. die stillen Freudefunken des müden Seeoffiziers mit schattierungsintensiver Sensibilität. Vera-Lotte Boecker brilliert nach Natalie im Stuttgarter Prinz von Homburg sowie der Autonoe in Die Bassariden bei den Salzburger Festspielen und an der Komischen Oper Berlin in ihrer bereits dritten Henze-Partie. Ihr hoher, nicht zu weicher Sopran verdichtet jede Charakterfeinheit Fusakos und entspricht so exakt Henzes Ideal eines intensiven wie detailgeschärften Singens. Diese Aufnahme bestätigt, dass Literaturoper und Musikdrama noch am Ende des 20. Jahrhunderts von faszinierender Ausdrucksrelevanz sein konnten. Hier erklingt die ambivalente Schönheit von Henzes Verratenem Meer in kongenialer Ausführung, für die Simone Young den Reiz des Fremdartigen bewahrte.