Helen Dabringhaus
Die Kunst des Schwalbenflugs
von Stefan Sell
14. November 2021
Helen Dabringhaus begeistert mit ihrem virtuosen Flötenspiel und einem Entdeckergeist, der sie nach Unbekanntem und Vergessenem suchen lässt.
Ihr Masterstudium vollendete sie mit Bestnote, holte Preise über Preise und ist heute eine äußerst gefragte Flötistin. Ihre Konzertreisen führten sie nach China, Südkorea, Frankreich, Finnland und in die USA. Im März 2021 erschien von ihr Iberts Flötenkonzert in einer grandiosen.
Mit der Gitarristin Negin Habibi veröffentlichte sie ihre Diabelli-CD mit Werken für Flöte und Gitarre. Was auch immer sie anpackt, die Flötistin Helen Dabringhaus ist mit Herz und Seele dabei, heiter, temperamentvoll und einfühlsam. Zudem hat sie sich in aller stilistischen Offenheit auf Ersteinspielungen spezialisiert.
»Das Spannende an Unbekanntem ist bereits der Moment der Entdeckung.«
CRESCENDO: Mit dem Trio Parnassus haben Sie für die wunderbare Aufnahme der Musik von Christian Heinrich Rinck den Opus Klassik 2021 erhalten. Wie fühlt sich das an?
Helen Dabringhaus: Ehrlich gesagt, ein bisschen surreal. Ich war extrem überrascht und kann es noch gar nicht so richtig glauben.
Rinck, aber auch Johann Wilhelm Wilms, als Komponisten beide eher unbekannte Zeitgenossen Beethovens – worin liegt der besondere Reiz bei Ersteinspielungen?
Das Spannende an Unbekanntem ist bereits der Moment der Entdeckung – dass es niemand bisher kennt. Dazu kommt, dass ich keinerlei vorgegebene interpretatorische Referenz habe: Ich kann unbeeinflusst das Stück für mich entdecken, das seit wer weiß wie vielen Jahren nicht mehr oder sogar noch nie gespielt wurde. Man kann nicht mal schnell eine Aufnahme anhören und es besser machen. Dadurch sind die Proben viel mehr eine Entdeckungsreise als bei den Standardwerken, die man unweigerlich irgendwie im Ohr hat.
Und was kann auf so einer Entdeckungsreise passieren?
Die Arbeit am ersten Wilms-Album war besonders faszinierend. Ich hatte mit dem ersten Satz der zweiten Sonate ein großes Problem, weil ich ihn irgendwie zu depressiv fand. Immer wieder habe ich mit mir gehadert. Dann habe ich mit meinem Pianisten einfach mal etwas Anderes ausprobiert, und inzwischen ist dieser Satz einer der vergnügtesten auf der CD. Einen solchen Turnaround habe ich auf diese Weise noch nie erlebt.
Rinck, Wilms, Diabelli, Beethoven – all diesen Komponisten ist gemein, dass sie längst verstorben sind. Gibt es aus der zeitgenössischen Musik etwas, das Einfluss auf die Interpretation von Werken verstorbener Komponisten hat? Ist vielleicht sogar ein Touch Groove denkbar, wie man ihn aus dem Jazz kennt?
Ja genau, gerade so einen leicht jazzigen Groove hat die Musik der klassischen Epoche ja in der Tat. Es hieß möglicherweise anders, aber diese Bezeichnung passt schon… Was aber die zeitgenössische Musik betrifft, da geht es meist nicht um Groove, sondern vielmehr um die verschiedenen neuartigen Klangerzeugungsmöglichkeiten. Ich kann nicht eine Berio-Sequenza [Werk für Flöte Solo, 1958, Anm.d.Red.] auf eine Beethovensonate übertragen, das sind verschiedene Welten, natürlich auch sehr spannend.
»Ich wollte immer Flöte spielen, nie etwas anderes.«
Mit fünf haben Sie angefangen, Klavier zu spielen, mit neun Jahren Flöte. Warum gerade Flöte? Was hat Sie dazu bewegt?
Ich wollte immer Flöte spielen, nie etwas anderes. Ich habe zu Hause viel Musik gehört, viel Musik mit Flöte, viel mit Paul Meisen, der einfach einen so fantastischen Klang hervorgebracht hat, dass ich mich schnell verliebt habe. Seine Prokofjew-Sonate ist so großartig gespielt – das wollte ich auch können!
Sie haben eine wundervolle Einspielung des Flötenkonzerts von Jacques Ibert vorgelegt. Ibert war 1934 bei seiner Uraufführung gar nicht dabei, hielt sich stattdessen in seinem Hotel in Marseille auf und verfolgte die Übertragung im Radio. Überliefert ist, er hätte vor sich hingelächelt und zugehört, „als ob er die Musik gar nicht kenne und sie gerade jetzt erst voller Vergnügen entdeckte“. Dieses Entdecken voller Vergnügen wird hier wieder hörbar. Für einen Außenstehenden sehr, sehr virtuos.
Es ist auch für einen Innenstehenden sehr virtuos.
Aus dem Allegro Scherzando wurde damals gleich ein Wettbewerbsstück. Es klingt buchstäblich atemberaubend, denn es braucht auch den Atem, sich der Bandbreite der Ausdrucksmöglichkeiten, die Ibert hier geschaffen hat, ganz und gar zu widmen. Geradezu übermütig stellen Sie sich der Herausforderung dieses Spiels. Da ist im wahrsten Sinne des Wortes langer Atem gefragt. Woher kommen Technik und Ausdauer?
Ich mache an fünf bis sechs Tagen die Woche Sport, dreimal ein von Physiotherapeuten erarbeitetes Krafttraining als Ausgleich für die Haltung des Instruments, die ergonomisch ja nicht gerade günstig ist, und gehe zwei- bis dreimal die Woche joggen, um die Kondition zu haben. Was das Joggen betrifft, bin ich zum Glück fast süchtig.
»Ich stelle mir vor, wie ein Vogel fliegt, sich hochschwingt und durch die Luft segelt.«
Ihr Spiel erinnert an die Kunst des Schwalbenflugs am Sommerhimmel. Haben Sie beim Spielen auch solche Bilder im Kopf?
Definitiv! Es läuft immer ein Film in meinem Kopf ab, ich bin ein sehr bildhafter Mensch. Wenn ich ein Stück spiele ohne Möglichkeit zur Imagination, dann funktioniert es nicht, und ich muss mir Bilder suchen. Nicht ohne Grund heißt mein Duo mit Gitarre „Duo Images“, es geht nicht einfach nur um richtige Intonation und Zusammenspiel – Negin Habibi und ich erzählen beide gern Bildergeschichten. Ich habe viele Erinnerungen an Begegnungen mit Freunden, tatsächlich auch an Erlebnisse mit Tieren. Früher hatte ich ein Pferd, wir hatten eine sehr enge Beziehung. Ich stelle mir dann vor, wie ich auf diesem Pferd sitze, galoppiere, trabe, springe. Oder ich stelle mir vor, wie ein Vogel fliegt, sich hochschwingt und durch die Luft segelt. Auch Menschen, die ich kenne, benutze ich als Charaktere in der Musik, dann spiele ich so, wie ich mir vorstelle, dass es diese Person sagen würde.
Vergleichbar mit einer Romanautorin, die ihre Protagonisten aus dem Freundes- und Bekanntenkreis rekrutiert?
Ja, aber ich verrate nicht, wer wo wie vorkommt…
Weitere Informationen zu Helen Dabringhaus unter:
helendabringhaus.com