Hilary Hahn
Wie eine Botschaft aus dem Jenseits
28. März 2021
Hilary Hahn nützte ihre künstlerische Residenz beim Orchestre Philharmonique de Radio France, um das Album „Paris“ aufzunehmen. Im Gespräch erzählt sie von dem bewegenden Abschiedsgeschenk, das Einojuhani Rautavaara ihr bei seinem Tod hinterließ, von ihrem Sabbatical und ihrer neuen Begeisterung für Orchestermusik.
„2020 war das erste Jahr meiner Karriere, in dem bei meinen Auftritten das Dirigentenpodium ausschließlich weiblich besetzt war“, schmunzelt Hilary Hahn. Ja, die Klassikwelt hat sich in jüngster Zeit umgekrempelt – leider aus anderen Gründen als jenen der Gleichberechtigung. Im September 2019 hatte die Geigerin ein für zwölf Monate geplantes Sabbatical begonnen. Mittendrin schlug die Pandemie zu – und hat auch Hilary Hahns Leben deutlich verändert: „Auch und gerade weil ich selbst nicht aufgetreten bin, habe ich doch regelmäßig Konzerte gehört und es sehr genossen. So hat mich das Ganze zunächst als Hörerin betroffen, dann erst als aktive Musikerin. Das hat meine Sicht auf die Pandemie beeinflusst, auf das schmerzliche Verschwinden von Live-Konzerten und auf die verschiedenen Experimente, mit dem Publikum auf andere Art zu kommunizieren.“
Für sie war es gut und wichtig, an langfristigen Projekten arbeiten zu können – etwa die Fortführung ihrer „100 Days of Practice“, bei dem sie u.a. via Instagram (@violincase) ihre Follower an ihrem Training teilhaben lässt und motiviert. „Ich weiß, dass dieser Kontakt mit den Menschen absolut nicht selbstverständlich, sondern etwas Besonderes ist: Es gibt mir ein Gefühl der Verbundenheit, gerade jetzt. Beim ersten Mal waren die Posts unter dem Hashtag „#100daysofpractice“ auf 350.000 geklettert, doch als ich jetzt wieder damit begonnen habe, waren es schon 500.000: Die Leute üben also wirklich!“, freut sich Hilary Hahn. In dieser auch für sie „anstrengenden, schwierigen Zeit“ hilft die Konzentration aufs Wesentliche: „Ich bin gesund, meine Familie ist gesund, die Grundbedürfnisse sind gedeckt. Ich kann von zu Hause aus schnell in der freien Natur sein, und ich nütze das so viel wie möglich.“ Beruflich lautet ihre Parole nun allerdings: „Monat für Monat, Schritt für Schritt.“ Im November ist sie zum ersten Mal wieder aufgetreten und hat Mozart gespielt, jedes Mal mit Marin Alsop – weil Andrés Orozco-Estrada nicht nach Houston reisen konnte und die Dirigentin dort einsprang: So kam es zum eingangs erwähnten Frauenanteil von 100 Prozent…
»Während der Auszeit kann ich spontan auf Wünsche und Bedürfnisse reagieren und überlegen, wo und wie ich in Zukunft weitermachen will.«
Dabei sei sie gar nicht so sicher gewesen, wie es ihr nach der langen Pause auf dem Podium gehen würde, gesteht die dreifache Grammy-Preisträgerin: „Immerhin habe ich zwei Kinder im Alter von zwei und fünf, das kann die Prioritäten schon gehörig durchschütteln. Aber ich war sofort voll auf dem Posten, und so wird es uns allen gehen: Sobald wir wieder da draußen stehen, wird alles wieder sein wie früher. Das macht Mut – und ist frustrierend zugleich, weil wir noch warten müssen. Bis dahin lerne ich eine Menge über andere Aspekte meiner Laufbahn, wozu ich sonst nicht Gelegenheit gehabt hätte, so etwa, meine eigenen Videos zu produzieren.“ Die ungewollte Verlängerung des Sabbaticals auf Raten trifft Hilary Hahn freilich nicht hart, dazu weiß sie ihre Zeit zu gut zu nützen – vor allem, indem sie die Auszeit nicht von vornherein mit Vorhaben vollstopft. „Eine normale Spielzeit plane ich zwei oder drei Jahre voraus. Und wenn es so weit ist, habe ich sehr wohl das Gefühl, das zu machen, was ich will. Während der Auszeit aber kann ich ganz spontan auf Wünsche und Bedürfnisse reagieren und zugleich überlegen, wo und wie ich in Zukunft weitermachen will. Dazu brauche und nütze ich diese Zeit für mich.“
Vor zehn Jahren, mit 29, hat sie sich erstmals sechs Monate Pause gegönnt – und zunächst gedacht, sie würde mit dem Rucksack durch Amerika oder Afrika reisen. Aber schon am ersten Tag, gesteht sie lachend, sei ihr klargeworden, dass sie einfach mal Ruhe brauche. „Als ich gegen Ende dieser Zeit dann im Auto statt der Hitparade doch wieder einen klassischen Sender wählte, geriet ich plötzlich mitten in Saint-Saëns« Orgelsinfonie – und war völlig hin und weg: Es war schlichtweg großartig! Ich hörte überhaupt nicht analytisch, wie ich das im Hinblick auf meine Arbeit ja eigentlich tun sollte, sondern konnte mich einfach der Magie des Klangs hingeben. Dieses Erlebnis war für mich das größte Geschenk und hat mich auch in meinen Auftritten danach stark beeinflusst. Deshalb mache ich keinerlei Pläne für meine Sabbaticals, um für genau so etwas frei zu sein.“
Offensichtlich sind Hilary Hahns musikalische Interessen und Vorlieben mit dem Violinrepertoire vom Barock bis zur Gegenwart also bei Weitem nicht gedeckt, wie die Faszination für die Orgelsinfonie zeigt. Dabei war Orchestermusik nicht von Anfang an ihre Leidenschaft. „Als Kind habe ich mich im Orchester gar nicht sehr wohl und sicher gefühlt. Heute aber genieße ich die Sinfonien von Brahms oder Rachmaninoff in Konzerten ganz besonders. Und schon zu Schulzeiten habe ich es geliebt, in Streichquartetten die zweite Geige zu spielen, eine Mittelstimme zu übernehmen. Wenn ich jetzt bei Festivals Kammermusik mit Freunden mache, setze ich das fort. Aber natürlich gibt es so viel fantastische Musik, und es ist unmöglich, alles zu spielen.“
»Es kann immer nur eine Momentaufnahme gelingen, die einen Punkt in meinem Leben als Interpretin abbildet.«
Ihr neues Album „Paris“ ist jedenfalls auch ein Plädoyer für fantastische Musik – und Hilary Hahn bleibt dabei ihrer Linie treu, Wiedereinspielungen zu vermeiden und lieber ihre ohnehin schon umfangreiche Diskografie um neue Werke zu erweitern, immer abhängig davon, ob die für sie optimalen Partner zur Verfügung stehen. Überhaupt könne eine CD niemals eine Art „letztes Wort“ darstellen, nicht einmal von ihrer eigenen Warte aus: „Es kann immer nur eine Momentaufnahme gelingen, die einen Punkt in meinem Leben als Interpretin und dies zugleich mit einer bestimmten musikalischen Partnerschaft abbildet – das aber dann so gut wie nur irgend möglich.“ Am Anfang ihrer Plattenkarriere sei jedes Jahr eine neue CD erwartet worden, das habe sich spätestens in den letzten zehn Jahren geändert, auch durch die ständige Verfügbarkeit von Aufnahmen über verschiedene Kanäle im Netz. „Jetzt schaue ich viel mehr darauf, wann und wo ich den Drang zu einer Aufnahme spüre“, sagt sie, „und da spielt auch eine große Rolle, wo ich eine Zusammenarbeit dokumentieren möchte.“ Im Fall von „Paris“ war das eine künstlerische Residenz beim Orchestre Philharmonique de Radio France in der Saison 2018⁄19, die Hilary Hahn sehr viel bedeutet hat – zumal sie es generell immer stärker genießt, über einen längeren Zeitraum enger mit bestimmten Klangkörpern zu musizieren, einander besser kennenzulernen, eine stärkere Verbindung einzugehen, auch mit dem dortigen Publikum.
»Das schwer beschreibbare Gefühl der Transzendenz bei der Uraufführung in Paris werde ich nie vergessen.«
Anlass und Herzstück des Albums sind die Deux Sérénades des 2016 im 88. Lebensjahr verstorbenen Finnen Einojuhani Rautavaara – ein gefühlvoll-sublimes Diptychon, dessen Existenz eine beglückende Überraschung für Hahn und Mikko Franck darstellte. Der gleichfalls aus Finnland stammende Chefdirigent des Orchestre Philharmonique de Radio France hat, wie Hahn feststellt, „so gut wie alles von Rautavaara dirigiert, vieles davon als Uraufführung, und ist auch durch ein persönliches nahes Verhältnis so ziemlich der größte und genaueste Kenner von Rautavaaras Schaffen“. Nach einer gemeinsamen Aufführung von Rautavaaras Violinkonzert 2014 hatten sie Hunger nach mehr – und den bereits kranken Komponisten um ein weiteres Werk für Violine und Orchester gebeten. Er starb, und sie mussten akzeptieren, dass aus dem Plan nichts mehr geworden war. Zu Francks Verblüffung aber zeigte ihm Rautavaaras Witwe später die fast fertige Partitur dessen, was der Dirigent als jenes Werk erkannte, das für Hilary Hahn und ihn entstanden war: „Es war wie eine Botschaft aus dem Jenseits, ein letztes Abschiedsgeschenk, an dem Rautavaara bis zuletzt gearbeitet hatte. Das schwer beschreibbare Gefühl der Transzendenz bei der Uraufführung, die wir im Februar 2019 in Paris gespielt haben, werde ich nie vergessen.“
Weit mehr als famose Zugaben, sondern von eigenem, dazu passendem Gewicht sind die anderen beiden Stücke: eines ein Klassiker der Moderne, das andere ein vergessenes Meisterwerk. Hilary Hahn traf die Auswahl zunächst instinktiv, aber Mikko Franck war sofort Feuer und Flamme für die Idee, Prokofjews 1923 in Paris uraufgeführtes Erstes Violinkonzert und das Poème für Violine und Orchester von Ernest Chausson dazu aufzunehmen: „In Prokofjews Musik gibt so viele kulturelle Überschneidungen mit dem künstlerischen Pariser Milieu – eine befruchtende Gleichzeitigkeit verschiedener Strömungen. Das Orchestre Philharmonique de Radio France ist ideal dafür, weil sein Klang farbenreich und zugleich unmittelbar ist, und das bei enormer Reaktionsschnelligkeit: Die musikalischen Bälle wechseln in Windeseile zwischen uns hin und her. Das ist für dieses Konzert unerlässlich. Die Stimmung schaltet so oft und schnell um, technisch, in der Instrumentierung, in der Artikulation, das mag ich besonders an dem Stück. Und ich bemühe mich, die Kontraste so deutlich wie möglich herauszuarbeiten.“
»Man muss in Ernest Chaussons Gefühlswelt voll aufgehen, andernfalls könnte es oberflächlich wirken.«
Paradoxerweise garantiert gerade das den großen Zusammenhang – die extreme Abwechslung erzählt in kurzer Zeit eine enorm dichte Geschichte. Chausson wiederum verlange „einen schönen, ausdrucksvollen Klang, der spezifisch französisch wirkt. Mit dem Orchestre Philharmonique de Radio France klingt dabei nichts künstlich, nichts bewusst auf Impressionismus hin getrimmt, sondern einfach selbstverständlich: ein verinnerlichter, schlichter Ton, der gerade dadurch den tiefsten Ausdruck erreicht. Das sind echte Gänsehautmomente für mich: Wenn etwa ich eine Phrase beende, die das Orchester übernimmt – und noch schöner und gefühlvoller weiterführt, als ich allein es je könnte. Da steigen mir Tränen in die Augen. Auch, weil Chausson gerade in diesem Stück über verschiedene Hürden und Widerstände hinweg seine Liebe zur Musik durchsetzen und seinen Stil definieren konnte“. Und sie fügt hinzu: „Was für eine Tragik, dass er so früh (er starb 44-jährig bei einem Fahrradunfall, Anm. d. Red.) ums Leben gekommen ist! Ich empfinde dieses unterschwellig melancholische, dabei aber oft ungetrübt freudige Werk auch als Requiem auf ihn und sein künstlerisches Potential. Man muss in dieser Gefühlswelt aber auch voll aufgehen, andernfalls könnte es oberflächlich wirken.“ Einen Nachteil gebe es aber, ergänzt Hilary Hahn: „Es lässt sich von Format und Inhalt her nicht leicht in ein Konzertprogramm integrieren. Umso besser aber passt es auf ein Album: als ein wahres Meisterstück im Violinrepertoire.“
Weitere Informationen und Auftrittstermine von Hilary Hahn unter: hilaryhahn.com