Ian Bostridge
Lieder in Zeiten des Krieges
von Mario-Felix Vogt
25. Oktober 2018
Seit Jahren beschäftigt sich der britische Tenor Ian Bostridge mit den beiden Weltkriegen und der Musik, die in jenen Zeiten entstand. Nun erscheint dazu sein Lieder-Album.
Seit Jahren beschäftigt sich der britische Tenor Ian Bostridge mit den beiden Weltkriegen und der Musik, die in jenen Zeiten entstand. Nun erscheint sein Album mit Liedern zu dem Thema.
Ian Bostridge ist der absolute Gegenentwurf zum Typus des mit Schmelz und Schmalz auftrumpfenden Gondolieren-Tenors. Der hagere 54-Jährige ist der Inbegriff des intellektuellen Sängers, der nichts dem Zufall überlässt. Er ist umfangreich gebildet, hochreflektiert und hat nicht nur eine Gesangsausbildung absolviert, sondern auch Philosophie und Geschichte in Oxford und Cambridge studiert. Gemeinsam mit dem Bassisten Matthias Goerne Benjamin stand er an der Berliner Staatsoper Unter den Linden mit Brittens War Requiem auf der Bühne, am Pult stand Bostridges langjähriger musikalischer Gefährte, Sir Antonio Pappano, der auch als Pianist auf seinem neuen Weltkriegslieder-Album mitwirkte. Auffallend freundlich, offen und unprätentiös ist dieser Künstler, der, hat er einmal angefangen zu erzählen, sprudelt wie ein unerschöpflicher Quell.
crescendo: Herr Bostridge, was war die Idee zu einem Album, das sich um den Ersten Weltkrieg dreht?
Ian Bostridge: Ursprünglich hatte ich eigentlich geplant, zu dieser Thematik ein Buch zu veröffentlichen. Während eines Konzerts von Benjamin Brittens War Requiem in Montréal wurde mir plötzlich klar, dass es meine 74. Aufführung dieses Werks war. Und so dachte ich, ich sollte vielleicht über etwas schreiben, das einen Bezug zum War Requiem mitbringt.
Ich konnte dafür die Lieder aus meinem Repertoire verwenden, die eine Verbindung zum Ersten Weltkrieg haben und eine Art intellektuelles Narrativ kreieren. Zum Beispiel mit drei Liedern von Gustav Mahler aus dem Zyklus Des Knaben Wunderhorn beginnen und die Ursprünge der Wunderhorn-Lieder anschauen – einige kamen aus dem Dreißigjährigen Krieg, andere aus den Napoleonischen Kriegen. Es stellte sich dann die Frage, in welcher Gesellschaft Mahler aufwuchs, er hörte ja die ganze Zeit Militärmusik. War Österreich eine besonders militarisierte Gesellschaft? Und wie war Mahlers Haltung gegenüber dem Krieg?
Damit wäre die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg abgedeckt.
Genau. Dann hatte ich auch Lieder von zwei Komponisten gesungen, die in diesem Krieg auf beiden Seiten getötet wurden. Der Engländer George Butterworth fiel in der Schlacht an der Somme und der deutsche Komponist Rudi Stephan in Galizien an der Ostfront. Zwar haben Stephans Lieder nicht direkt mit dem Krieg zu tun, sie entstanden jedoch in den Kriegsjahren 1913⁄14. Es sind sind ungemein interessante Werke mit einem unverwechselbaren Ton – und Stephan versucht hier nicht, einen anderen Komponisten zu imitieren.
Die Butterworth-Lieder hingegen sind enger mit dem Thema Krieg verknüpft. Die Gedichte, auf denen sie basieren, sind der berühmten Sammlung „A Shropshire Lad“ des englischen Dichters A. E. Housman entnommen. Sie wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr häufig von englischen Komponisten vertont. Während des Ersten Weltkriegs nahmen viele Soldaten diese Gedichtsammlung mit in den Schützengraben, um während des Bombardements etwas Ablenkung zu haben.
„Ich habe ein großes Interesse an Wissenschaftsgeschichte und der Entwicklung der Rationalität“
Wie ist denn die Verbindung von Kurt Weills Four Walt Whitman Songs zum Krieg?
Da ist es etwas komplizierter. Den Rahmen bildet hier das Leben des Dichters Walt Whitman, der im amerikanischen Bürgerkrieg als freiwilliger Sanitätshelfer in Lazaretten arbeitete und während der 1860er-Jahre eine Vielzahl an Gedichten über den Krieg schrieb. Dieser Bürgerkrieg ist wahrscheinlich der erste mechanisierte Krieg überhaupt, denn er ist der erste Krieg, in dem Maschinengewehre zum Einsatz kamen. Weill komponierte die Whitman-Lieder während des Zweiten Weltkriegs. In ihnen zeigt sich teilweise bereits ein amerikanischer Tonfall, der auch die Musicals, die er in den 1940er-Jahren schrieb, kennzeichnet.
Sie selbst haben ja ebenfalls Geschichte studiert. Haben Sie sich im Rahmen Ihres Studiums auch mit den beiden Weltkriegen beschäftigt?
Nicht professionell. Die Verbindung zum Ersten Weltkrieg lief für mich in erster Linie über meinen Bruder Mark. Er ist Schriftsteller und hat mehrere Bücher darüber verfasst, etwa über das Jahr 1914 in England oder über die englische Autorin Vera Brittain. Sie veröffentlichte 1933 ihre Memoiren über ihre Erfahrungen als Frau während des Krieges und war in den 1940er-Jahren eine aktive Pazifistin.
Ihre Doktorarbeit haben Sie über Hexerei geschrieben. Wie kamen Sie auf dieses Thema?
Nun, ich habe ein großes Interesse an Wissenschaftsgeschichte und der Entwicklung der Rationalität. Während meiner Studienzeit in Cambridge kam ich auf die Idee, eine Doktorarbeit über Hexerei zu schreiben und darin zu untersuchen, warum gebildete Menschen um 1760 in England aufhörten, daran zu glauben. Meine Antwort war, dass die Leute nicht deshalb nicht mehr daran glaubten, weil sie plötzlich die Rationalität für sich entdeckt hatten, sondern weil es politisch peinlich wurde und unter religiösen Aspekten als nicht ganz richtig angesehen wurde.