Joana Mallwitz
Die große Idee eines Werks
von Ruth Renée Reif
17. August 2020
Joana Mallwitz ist eine begnadete Musikerin voller Sendungsbewusstsein. Seit der Spielzeit 2018/2019 feiert sie Erfolge als Generalmusikdirektorin der Staatsphilharmonie Nürnberg.
Joana Mallwitz ist eine begnadete Musikerin voller Sendungsbewusstsein. Als Gastdirigentin wirkt sie an zahlreichen Häusern, seit der Spielzeit 2018/2019 feiert sie sensationelle Erfolge als Generalmusikdirektorin der Staatsphilharmonie Nürnberg. Bei den Salzburger Festspielen 2020 stand sie am Pult der Wiener Philharmoniker in Christof Loys Inszenierung von Mozarts Così fan tutte.
CRESCENDO: Maestra Mallwitz, die Corona-Pandemie hat den Kontakt zwischen Künstlern und Publikum stark eingeschränkt oder sogar unterbunden. Konzerte werden im Stream gezeigt oder vor nur wenigen Zuschauern gespielt. Das wirft die Frage auf: Wie wichtig ist es für Sie, die Reaktionen des Publikums zu spüren?
Joana Mallwitz: Darüber habe ich in letzter Zeit viel nachgedacht. Was lässt ein Konzert so magisch werden? Was unterscheidet es von einer Generalprobe, bei der man auch alles geben muss? Wahrscheinlich empfindet das jeder Musiker anders. Für Sänger, die das Publikum direkt anschauen, ist es anders als für eine Dirigentin wie mich. Mir geht es gar nicht um die Reaktionen des Publikums. Sicher ist es merkwürdig, wenn nach dem letzten Ton Stille herrscht. Aber das Entscheidende liegt im Beginn.
Joana Mallwitz: »Wenn ich auf die Bühne komme und Orchester und Publikum begrüße, spüre ich die enorme Energie.«
Ich erlebe einen starken Moment, wenn ich auf die Bühne komme und Orchester und Publikum begrüße. Da spüre ich die enorme Energie von den vielen Menschen. Ich lasse das Orchester aufstehen, verbeuge mich, und indem ich mich zu den Musikern umdrehe, um mich auf die Musik zu konzentrieren, nehme ich diese Energie mit. Es ist, als würde ich das Publikum zu mir hereinziehen, damit ich alle bei mir habe, sobald ich den ersten Ton dirigiere. Dieser Moment fehlt, wenn das Publikum nicht anwesend ist. Und ich habe überlegt, wie man das kompensieren könnte. Denken wir an einen lieben Menschen, der zu Hause vor dem Computer sitzt? Oder spielen wir für die Kameraleute im Saal? Das Gefühl, für jemanden zu spielen, brauchen wir.
Ihre Kollegin Marin Alsop begründete einmal das große Interesse an Alter Musik mit deren Klarheit und Einfachheit. In einer Zeit, da das Leben immer komplizierter werde, hätten die Menschen ein Bedürfnis nach durchschaubaren Strukturen und einem leicht fasslichen Aufbau. Kann Musik eine Hilfe sein in Krisenzeiten?
Als all die Absagen einsetzten und Konzerte nicht mehr stattfinden konnten, merkte man, wie durstig die Menschen nach Musik sind. Von vielen unserer Konzertbesucher bekam ich die Reaktion, wie sehr sie sich auf das Konzert gefreut hatten und wie dankbar sie sind, wenn Konzerte im Stream gezeigt werden oder Musiker Hauskonzerte geben. Im normalen Leben hält man schon eine Woche ohne Konzert aus.
Joana Mallwitz: »Gerade in Zeiten von Krisen und Isolation brauchen die Menschen das Erleben von Emotion und Gemeinsamkeit.«
Aber gerade in Zeiten von Krisen und Isolation brauchen die Menschen Kunst und Musik. Das ist die schöne Seite an der derzeitigen Situation – dass deutlich wird, wie essenziell Musik und das Erleben von Emotion und Gemeinsamkeit sind. Es ist nicht so, dass die Musik die Branche ist, die um das Publikum buhlt und mehr Geld verlangt. Nein! Die Menschen brauchen die Musik.
Gibt es Kompositionen, die sich besonders für Krisenzeiten eignen?
Im ersten meiner Konzerte, das wegen der Pandemie abgesagt werden musste, hätte ich an der Bayerischen Staatsoper Schuberts Unvollendete dirigieren sollen. Das Gefühl dieses Werks und das Gefühl, das mich in der Realität beschlich, wirkten damals surreal. Man konnte gar nicht fassen, was mit uns geschieht und wo es hingeht.
Joana Mallwitz: »Nichts passt besser zur derzeitigen Situation als Schuberts Unvollendete, bei der man irgendwann merkt, dass man schon keinen Boden mehr unter den Füßen hat.«
Es war zu spüren, dass da etwas größer ist als wir alle. Und genau das empfinde ich in Schuberts Sinfonie. Nichts passt besser zu dieser Situation, als diese tänzerische Musik in den Geigen und Celli, bei der man irgendwann merkt, dass man schon keinen Boden mehr unter den Füßen hat. Nach der Generalpause kommt das Fortissimo, da brechen Abgründe schlagartig über einen herein. Aber man ist wie in einem Traum, tanzt weiter und spürt, dass das gar nicht mehr real ist.
Dem Publikum nahe
Klassisch-romantische Werke dominieren die Konzertprogramme. Dabei wird zunehmend eine Verengung beklagt auf einige große Namen und Werke. Sehen Sie die Gefahr, dass Konzertsäle zum Museum werden?
Nie wird sich darüber beschwert, dass sich die Menschen auf den Weg machen, um den Petersdom zu bewundern, oder die barocke Pracht von Salzburg oder die Mona Lisa, weil jede Generation das Recht hat, diese Meilensteine der menschlichen Kunst und Zivilisation zu bewundern und für sich neu zu bewerten. Unsere klassische Musik kann man sich aber nicht ins Museum hängen, im Gegenteil: Das Wunderbare ist, dass diese Kunstform nur durch das immer wieder erneute Zum-Klingen-Bringen am Leben und erlebbar bleibt.
Joana Mallwitz: »Wir müssen den riesigen Schatz des klassischen Repertoires als Geschenk hüten, pflegen und bewahren.«
Wie viele Möglichkeiten werde ich in meinem Leben bekommen Tristan zu dirigieren? Wenn ich glücklich bin, 30 oder 50? Ich weiß es nicht, aber eigentlich immer noch zu wenig. Wieviel weniger ist es dann erst bei einem Zuhörer. Das heißt, wir sollten uns nicht über den riesigen Schatz des klassischen Repertoires – dieser 200 Jahre Hochzeit der Entstehung unserer Kunstform – beschweren, sondern dieses Geschenk hüten, pflegen und bewahren. Zu dieser Verantwortung gehört aber gleichzeitig das Erforschen und Ermöglichen von neuen Wegen, Werken und Denkweisen.
Sir Roger Norrington setzt sich seit langem dafür ein, das Ritual von Konzerten aufzubrechen. Er möchte mit den Musikern und dem Publikum ein Gemeinschaftserlebnis schaffen. So animiert er das Publikum, seine Begeisterung an der Musik zu zeigen, sich zu freuen und auch zwischen den Sätzen zu applaudieren, was ja als Sakrileg gilt. Teilen Sie seine Sicht?
Man sollte alles versuchen, was uns dem Publikum näherbringt und diese Musik erfahrbar werden lässt, auch wenn man damit Formen aufbricht. Tatsächlich ist nämlich die gegenwärtig als so traditionell wahrgenommene Form eines Orchesterkonzerts, also Ouvertüre, Solokonzert, Sinfonie, in der Geschichte überhaupt nicht begründet.
Joana Mallwitz: »Das Konzert, das man heute als Tradition empfindet, ist eine in ihrer Zeit begründete Form, und es gibt keinen Grund sie nicht mit anderen Ideen zu füllen.«
Zu Beethovens Zeit etwa sahen Konzerte völlig anders aus. Da wurden an einem Abend mehrere Sinfonien gespielt. Am Anfang standen die großen schweren Werke. Dann wurde es immer kleinteiliger, bis am Ende Ouvertüren und einige Arien folgten. Ein solches Konzert würde heute niemand mehr aufs Programm setzen. Man würde es als zu lang und in der Zusammenstellung als falsch empfinden. So ist das Konzert, das man heute als Tradition empfindet, eine in ihrer Zeit begründete Form, und es gibt keinen Grund sie nicht mit anderen Ideen zu füllen. Man muss auf sein Gespür vertrauen. Und den Kontakt zum Publikum sollte man immer suchen. Wir haben in Nürnberg die so genannten Expeditionskonzerte. Das sind moderierte Konzerte, die ich sehr liebe, weil ich auch beim Publikum das Bedürfnis danach spüre.
Der verstorbene Musikwissenschaftler Joachim Kaiser erzählte, Zuhörer hätten ihm gesagt, sie würden ein Stück lieber von ihm erzählt bekommen als es sich anzuhören…
Ich möchte nicht in jedem Sinfoniekonzert unbedingt etwas sagen oder erklären. Man kann eine Beethoven-Sinfonie auch genießen, ohne sie erklärt zu bekommen. Die Expeditionskonzerte sind einfach ein anderes Format, und ich finde es toll, wie begeistert sie in Nürnberg angenommen werden. Sie sind bereits auf Dauer ausverkauft. Diese Nachfrage zeigt mir, dass es eben nicht stimmt, dass es keine Neugier für klassische Konzerte gibt. Aber viele Menschen wissen gar nicht, was sie verpassen.
Joana Mallwitz: »Ein Theater ist ein Ort der Überwältigung. Man sieht die beleuchtete Bühne und das Orchester, und man spürt, wie der Boden vibriert.«
Jemand, der noch nie in einem klassischen Konzert war und keinen Bezug dazu hat, traut sich vielleicht nicht. Er weiß nicht, was er damit anfangen soll, oder er denkt, er müsse vorher etwas wissen. Diese Hemmschwellen versuchen die Expeditionskonzerte aufzubrechen. Ich halte keine musikwissenschaftlichen Vorträge. Vielmehr möchte ich die Freude am Hören wecken, vorführen, wie etwas klingt und wie es wirkt. Darum muss das auch alles als lebendiges Konzert geschehen. Ich möchte das Publikum zu uns ins Staatstheater locken. So ein Theater ist ein Ort der Überwältigung. Man sieht die beleuchtete Bühne und das Orchester, und man spürt, wie der Boden vibriert, wenn die Kontrabässe spielen. Das gehört alles dazu.
Die Noten befragen
Herbert Blomstedt hat das Interpretieren von musikalischen Meisterwerken mit der Auslegung von Bibeltexten verglichen. Hier wie dort gebe es keine letztgültigen Lösungen, der heilige Text aber sei definitiv. Das klingt rigoros, und es stellt sich die Frage: Was bedeutet dann Interpretation?
Jeder von uns Musikern muss die Noten von allen Seiten befragen. Interpretation bedeutet für mich nicht, einem Stück meinen Stempel aufzudrücken. Man muss sich bei jeder Note fragen, warum sie steht, wo sie steht, warum sie wiederkehrt und warum sie anders wiederkehrt, um von all diesen kleinen Informationen vorzustoßen zur großen Idee des Werks.
Joana Mallwitz: »Am Ende soll es sich so anfühlen, als habe ich die richtige Wahrheit gefunden.«
Wenn man ein Werk analysiert und studiert, lernt man es kennen, wie man einen Menschen kennenlernt. Man erfährt auch seine Geheimnisse, und es stellt sich eine Beziehung ein. Am Ende soll es sich so anfühlen, als habe ich die richtige Wahrheit gefunden. Das ist natürlich meine Wahrheit. Ein Dirigentenkollege kommt zu einer anderen einzigen Wahrheit. Jeder hat einen anderen Atem und anderen Herzschlag. Aber das ist für mich die Interpretation.
Alles kann auch die Partitur nicht festlegen. Es bleibt Raum zur Auslegung. Wie gehen Sie mit diesem Raum um?
Es ist tatsächlich sehr unterschiedlich. Mahler etwa war ein begnadeter Dirigent. Er testete dirigentisch auch seine eigenen Kompositionen und wusste genau, wie er etwas hinschreiben musste, damit ein Dirigent versteht, was gemeint ist. Da ist die Informationsfülle, die uns in den Noten begegnet, eine andere als etwa bei einer Schubert-Sinfonie. Schubert, der so vieles für die Schublade schrieb und wahrscheinlich nicht erwartete, dass wir seine Sinfonien heute in den großen Konzertsälen spielen, empfand es nicht für nötig, so genau zu sein.
Joana Mallwitz: »Als Dirigentin nehme ich auf, was mir entgegenkommt. Es ist ein Hin- und Hergeben von Impulsen, der sich während des Musizierens vollzieht.«
Da entspinnen sich dann die großen Diskussionen darüber, was wie gemeint ist, ob eine anders wiederkehrende Phrase bewusst anders sein soll oder ob es sich um eine Ungenauigkeit handelt. Sicher werden wir das nie wissen. Je weiter man in der Zeit zurückgeht, desto weniger sagen einem die Noten. In der Barockmusik, aber auch noch in der frühen Klassik wurde vieles gar nicht notiert. Es ergab sich aus dem Konsens, wie bestimmte Stellen gespielt werden. Der Beruf des Komponisten hat sich ja erst mit der Zeit entwickelt: Zunächst musste ein begnadeter Virtuose auf einem Instrument auch ein talentierter Improvisator sein: Die Musik wurde spontan erfunden und war nicht dazu gedacht, auf Notenpapier verewigt zu werden.
Mit den Musikern im Austausch
Das Spektrum dessen, was die Tradition an Dirigenten bietet, reicht vom charismatischen Orchesterbeschwörer bis zum nüchternen Sachwalter. Haben Sie Vorbilder?
Ich habe viele Vorbilder, nicht nur Dirigenten, sondern aus allen möglichen Bereichen. Von jedem kann man sich irgendetwas abschauen und für sich nutzen. Beim Dirigieren geht es um Authentizität. Ich kann nicht die große Kraft des Ausdrucks entwickeln, wenn ich nicht ich selbst bin.
Joana Mallwitz: »Einen tollen Dirigenten nachzuahmen, bringt einen nicht weiter.«
Da muss jeder Dirigent herausfinden, was in ihm drinsteckt und wo seine Stärken liegen, ob er sich als der lustige Charmeur begreift, der Philosoph oder der strenge Analytiker und Didaktiker. Einen tollen Dirigenten nachzuahmen, bringt einen nicht weiter.
Es gibt einige wenige Ensembles, die demokratisch organisiert sind. Aber Orchester sind es nicht. Wie vollziehen Sie diese Gratwanderung zwischen einem Einbeziehen der Musiker in ein Konzept und dem Durchsetzen eines Konzepts? Es gibt auch Orchester, die in ihrer Organisationsstruktur demokratisch organisiert sind: Nehmen Sie das berühmte Beispiel der Wiener Philharmoniker. Dennoch braucht ein Orchester eine gewisse Ordnung, und unhierarchisch wird es nie sein. In der Probe trifft am Ende der Dirigent die Entscheidung. Dafür besitzt er das Dirigentenhandwerk und die Technik. Das bedeutet aber nicht, dass ich vorschreibe, wie es gehen soll.
Joana Mallwitz: »Je weiter man in der Zeit zurückgeht, desto weniger sagen einem die Noten. Die Musik wurde spontan erfunden und war nicht dazu gedacht, auf Notenpapier verewigt zu werden.«
Das Entscheidende geschieht im Moment des Musizierens. Als Dirigentin muss ich durchlässig sein. Ich nehme auf, was mir entgegenkommt, was die Solo-Oboe mir für eine Phrase anbietet, wie die Streicher mir die Akzente entgegenfeuern, wie der Atem der Blechbläser das unterstützt, und ich versuche, all diese Impulse zu bündeln und in eine Bahn zu lenken. Es ist ein Hin- und Hergeben von Impulsen. Dieser Austausch, der sich während des Musizierens vollzieht, ist das Magische, und der erfolgt nicht hierarchisch.
Eine eigene Klangkultur schaffen
Ich zitiere noch einmal Marin Alsop, weil sie als amerikanische Dirigentin den Blick von außen hat. Sie erklärte, es gebe in Europa deutliche Unterschiede zwischen den Orchestern. Sie haben bereits viele Orchester dirigiert. Teilen Sie diese Beobachtung?
So allgemein würde ich es nicht sagen. Natürlich gibt es technisch bedingte Unterschiede. Auch die Ausbildung unterscheidet sich. Und die Wiener Philharmoniker spielen teilweise ein anderes Instrumentarium, zum Beispiel die Wiener Oboe und das Wiener Horn. Jedes Orchester besitzt ein lebendiges Gedächtnis, und bei den Orchestern in Europa reicht dieses oft weit zurück. Wenn man den Rosenkavalier hört, wird man immer erkennen, ob ihn die Wiener Philharmoniker spielen.
Joana Mallwitz: »Wenn in der Geschichte eines Orchesters so etwas stattfindet wie Brahms Zusammenarbeit mit dem Orchester in Meiningen, wirkt das noch über Generationen nach.«
Ich habe gerade über das Orchester in Meiningen gelesen und wie sehr Brahms dort mit dem Dirigenten vor Ort zusammengearbeitet hat und seine Kompositionen bei ihm erproben durfte. Damals war Meiningen das Brahms-Orchester. Musiker und Dirigent wussten, wie er etwas gespielt haben wollte und waren geschult in seinem Stil. Wenn in der Geschichte eines Orchesters so etwas stattfindet, wirkt das noch über Generationen nach.
Welche Bedeutung hat es für Sie, mit Ihren Orchestern, also gegenwärtig der Staatsphilharmonie Nürnberg, eine eigene Klangkultur zu schaffen?
Das ist wichtig. Darum verpflichte ich mich auch gerne für eine längere Zeit. Eine Klangkultur kann man nur erreichen, wenn man über längere Zeit mit einem Orchester arbeitet und sich über gewisse Fragen verständigt. Aber es ist ein großes Ziel.
Joana Mallwitz: »Gegenseitiges Vertrauen und die Bereitschaft der Musiker sich hinzugeben, spiegeln sich am Ende im Klang wider.«
Der Klang ist das Ergebnis von vielem, angefangen bei der Technik über die Artikulation bis hin zu einem gegenseitigen Vertrauen. Damit meine ich nicht nur zwischen dem Orchester und mir, sondern auch das Zusammenspiel innerhalb des Orchesters, die Bereitschaft der Musiker sich hinzugeben. Das kann man nur über einen langen Zeitraum erreichen, und das spiegelt sich am Ende im Klang wider.
Die Wiener Philharmoniker, die Sie bei den Salzburger Festspielen 2020 zur großen Überraschung mit einer Neuinszenierung von Così fan tutte dirigiert haben, sind bekannt für ihre melodische Streicherwärme…
Das lebendige Gedächtnis ist wahrscheinlich bei den Wiener Philharmonikern so stark wie bei wenigen Orchestern auf der Welt. Für mich als Dirigentin heißt das, dass ich dem Orchester bestimmt nicht meine Idee von Mozart überstülpe. Damit würde ich nur alles zerstören.
Joana Mallwitz: »Der Balanceakt zwischen dem, was mir entgegenkommt und meiner Idee, macht es aus.«
Man muss immer darauf achten, wo man hinkommt und was einem angeboten wird. Und von den Wiener Philharmonikern wird einem etwas Riesiges geboten. Trotzdem muss ich klar sein in meiner Idee von Mozart und dem Werk. Der Balanceakt zwischen beidem, dem, was mir entgegenkommt, und meiner Idee, macht es aus.
Die Verständigung mit den Sängern
Dirigenten beklagen mitunter, sie würden zu spät oder zu wenig in die Probenarbeit einbezogen. Wie gestalten Sie die Zusammenarbeit mit dem Regisseur?
Wenn Dirigenten beklagen, nicht einbezogen zu werden, dann läuft etwas falsch. Eher ist das Problem, dass Dirigenten selbstverschuldet zu spät einsetzen. Jedem Dirigenten ist es freigestellt, sich ein Jahr vorher mit dem Regisseur zusammenzusetzen und bei den Proben dabei zu sein. Mir ist es immer wichtig, mich frühzeitig mit dem Regisseur zu verständigen.
Joana Mallwitz: »Ich muss wissen, was der Regisseur ausdrücken will, ob der Subtext für den Sänger klar genug ist, oder ob ich ihm durch die Musik noch eine andere Ebene hinzufügen muss.«
Auch ist mir wichtig, während der szenischen Proben anwesend zu sein und nicht erst am Ende zu den Orchesterproben zu kommen. Gerade der Austausch zwischen Ausdruck und Musik, zwischen Bühne und Graben wird in szenischen Proben erarbeitet. Also muss ich wissen, was der Regisseur ausdrücken will. Ich muss erkennen, ob der Subtext für den Sänger klar genug ist, ob ich ihn unterstützen kann, oder ob ich ihm durch die Musik noch eine andere Ebene hinzufügen muss. Und vor allem ist es mir wichtig, die Sänger kennenzulernen. Das Tempo einer Arie hängt auch davon ab, welche Art von Stimme sie singt. Dafür muss ein Rahmen immer etwas offenbleiben.
Zum 100. Jubiläum der Salzburger Festspiele haben Sie mit Christof Loy eine Neuinszenierung von Mozarts Così fan tutte erarbeitet. Das Publikum und die Kritiker waren begeistert, und in einem Interview sprachen Sie von „Idealbedingungen“ und „einem Glückspaket“. Worauf kommt es für Sie an bei der Vorbereitung einer Operninszenierung?
Im besten Fall kommen alle Beteiligten – Regisseur, Dirigent und Sänger – mit einer sehr guten Vorbereitung und klaren Vorstellung zur ersten Probe, und durch diese Reibung potenziert sich dann in der gemeinsamen Arbeit die Ausdruckskraft.
Joana Mallwitz: »Regie und musikalische Idee gehen Hand in Hand: Idealbedingungen, um Mozart zu proben.«
Im Fall der Così ist es glücklicherweise genauso gewesen. Alles wurde vom Text und von der Musik her gedacht. Meistens saßen wir alle zusammen ums Klavier und haben so jede neue Nummer, jedes Rezitativ geprobt: Text, Subtext, Farbe, Impuls, Übergang, Timing. Regie und musikalische Idee gehen dann Hand in Hand: Idealbedingungen, um Mozart zu proben.
„Theater ist in einem positiven und in einem negativen Aspekt Mode und darauf angewiesen, immer wieder neue Variationen zu zeigen, damit es nicht erstarrt“, sagte Dieter Dorn einmal. Das gilt vermutlich auch für musikalische Deutungen, gerade vielgespielter Werke. Wie empfinden Sie das, wenn Sie eine Oper wie Così fan tutte vor sich haben?
Così ist vielleicht die zeitloseste Oper von Mozart. Es geht darum, was mit Menschen passiert, mit Menschen in Beziehungen, mit Menschen im Verlauf eines gesamten Lebens. Um dies an einem Opernabend erzählen können, ist das Ganze in diese etwas merkwürdige Verwechslungsgeschichte eingefasst. Aber die Emotionen sind heute so aktuell wie zu Mozarts Zeit oder in der Zukunft.
Joana Mallwitz: »Die Menschlichkeit muss sich übertragen, und da kann eine historische Operninszenierung manchmal aktueller sein als eine im modernen Stil.«
Jede neue Produktion muss dem nachspüren, was uns als Zuschauer berührt und uns mit den Protagonisten identifizieren lässt. Am Ende hängt die Qualität einer Produktion nur damit zusammen und hat nichts mit historischen oder modernen Kostümen zu tun. Die Menschlichkeit muss sich übertragen, und da kann eine historische Operninszenierung manchmal aktueller sein als eine im modernen Stil.
Für Igor Levit, der Sie seit langem kennt, sind Sie eine Jahrhundertdirigentin. Dennoch möchte ich Sie zum Abschluss unseres Gesprächs nach Ihren Plänen und vielleicht auch weiteren Zielen fragen.
Wenn man als Dirigentin in die Position kommt, auswählen zu dürfen, welche Anfragen und Engagements man annimmt und welche nicht, dann ist das ein großes Privileg. Mein Ziel ist es, die Orte und Orchester zu finden, bei denen ich das Gefühl habe, wir gehören zusammen, und es kann etwas Großes entstehen, wenn wir gemeinsam musizieren.
Joana Mallwitz: »In Nürnberg habe ich das Gefühl: Hier kann ich sein, wie ich bin, und es kann etwas Tolles entstehen.«
In Nürnberg befinde ich mich an einem solchen Ort. Vor meinem Vordirigat wusste ich noch nicht, was werden kann. Aber bei der ersten Probe mit dem Orchester hatte ich das Gefühl, unbedingt mit diesen Menschen musizieren zu wollen. Hier kann ich sein, wie ich bin, und es kann etwas Tolles entstehen.