Joana Mallwitz

Die große Idee eines Werks

von Ruth Renée Reif

17. August 2020

Joana Mallwitz ist eine begnadete Musikerin voller Sendungsbewusstsein. Seit der Spielzeit 2018/2019 feiert sie Erfolge als Generalmusikdirektorin der Staatsphilharmonie Nürnberg.

ist eine begna­dete Musi­kerin voller Sendungs­be­wusst­sein. Als Gast­di­ri­gentin wirkt sie an zahl­rei­chen Häusern, seit der Spiel­zeit 2018/2019 feiert sie sensa­tio­nelle Erfolge als Gene­ral­mu­sik­di­rek­torin der Staats­phil­har­monie . Bei den Salz­burger Fest­spielen 2020 stand sie am Pult der in Christof Loys Insze­nie­rung von Mozarts Così fan tutte.

CRESCENDO: Maestra Mall­witz, die Corona-Pandemie hat den Kontakt zwischen Künst­lern und Publikum stark einge­schränkt oder sogar unter­bunden. Konzerte werden im Stream gezeigt oder vor nur wenigen Zuschauern gespielt. Das wirft die Frage auf: Wie wichtig ist es für Sie, die Reak­tionen des Publi­kums zu spüren?
Joana Mall­witz: Darüber habe ich in letzter Zeit viel nach­ge­dacht. Was lässt ein Konzert so magisch werden? Was unter­scheidet es von einer Gene­ral­probe, bei der man auch alles geben muss? Wahr­schein­lich empfindet das jeder Musiker anders. Für Sänger, die das Publikum direkt anschauen, ist es anders als für eine Diri­gentin wie mich. Mir geht es gar nicht um die Reak­tionen des Publi­kums. Sicher ist es merk­würdig, wenn nach dem letzten Ton Stille herrscht. Aber das Entschei­dende liegt im Beginn.

Joana Mallwitz

Joana Mall­witz: »Wenn ich auf die Bühne komme und Orchester und Publikum begrüße, spüre ich die enorme Energie.«

Ich erlebe einen starken Moment, wenn ich auf die Bühne komme und Orchester und Publikum begrüße. Da spüre ich die enorme Energie von den vielen Menschen. Ich lasse das Orchester aufstehen, verbeuge mich, und indem ich mich zu den Musi­kern umdrehe, um mich auf die Musik zu konzen­trieren, nehme ich diese Energie mit. Es ist, als würde ich das Publikum zu mir herein­ziehen, damit ich alle bei mir habe, sobald ich den ersten Ton diri­giere. Dieser Moment fehlt, wenn das Publikum nicht anwe­send ist. Und ich habe über­legt, wie man das kompen­sieren könnte. Denken wir an einen lieben Menschen, der zu Hause vor dem Computer sitzt? Oder spielen wir für die Kame­ra­leute im Saal? Das Gefühl, für jemanden zu spielen, brau­chen wir.

Ihre Kollegin begrün­dete einmal das große Inter­esse an Alter Musik mit deren Klar­heit und Einfach­heit. In einer Zeit, da das Leben immer kompli­zierter werde, hätten die Menschen ein Bedürfnis nach durch­schau­baren Struk­turen und einem leicht fass­li­chen Aufbau. Kann Musik eine Hilfe sein in Krisen­zeiten?
Als all die Absagen einsetzten und Konzerte nicht mehr statt­finden konnten, merkte man, wie durstig die Menschen nach Musik sind. Von vielen unserer Konzert­be­su­cher bekam ich die Reak­tion, wie sehr sie sich auf das Konzert gefreut hatten und wie dankbar sie sind, wenn Konzerte im Stream gezeigt werden oder Musiker Haus­kon­zerte geben. Im normalen Leben hält man schon eine Woche ohne Konzert aus.

Joana Mallwitz

Joana Mall­witz: »Gerade in Zeiten von Krisen und Isola­tion brau­chen die Menschen das Erleben von Emotion und Gemein­sam­keit.«

Aber gerade in Zeiten von Krisen und Isola­tion brau­chen die Menschen Kunst und Musik. Das ist die schöne Seite an der derzei­tigen Situa­tion – dass deut­lich wird, wie essen­ziell Musik und das Erleben von Emotion und Gemein­sam­keit sind. Es ist nicht so, dass die Musik die Branche ist, die um das Publikum buhlt und mehr Geld verlangt. Nein! Die Menschen brau­chen die Musik.

Gibt es Kompo­si­tionen, die sich beson­ders für Krisen­zeiten eignen?
Im ersten meiner Konzerte, das wegen der Pandemie abge­sagt werden musste, hätte ich an der Baye­ri­schen Staats­oper Schu­berts Unvoll­endete diri­gieren sollen. Das Gefühl dieses Werks und das Gefühl, das mich in der Realität beschlich, wirkten damals surreal. Man konnte gar nicht fassen, was mit uns geschieht und wo es hingeht.

Joana Mallwitz

Joana Mall­witz: »Nichts passt besser zur derzei­tigen Situa­tion als Schu­berts Unvoll­endete, bei der man irgend­wann merkt, dass man schon keinen Boden mehr unter den Füßen hat.«

Es war zu spüren, dass da etwas größer ist als wir alle. Und genau das empfinde ich in Schu­berts Sinfonie. Nichts passt besser zu dieser Situa­tion, als diese tänze­ri­sche Musik in den Geigen und Celli, bei der man irgend­wann merkt, dass man schon keinen Boden mehr unter den Füßen hat. Nach der Gene­ral­pause kommt das Fortis­simo, da brechen Abgründe schlag­artig über einen herein. Aber man ist wie in einem Traum, tanzt weiter und spürt, dass das gar nicht mehr real ist.

Dem Publikum nahe

Dirigentin, Pianistin und Generalmusikdirektorin
Joana Mall­witz, Diri­gentin, Pianistin und seit 2018/2019 Gene­ral­mu­sik­di­rek­torin bei der
(Foto: © Nikolaj Lund)

Klas­sisch-roman­ti­sche Werke domi­nieren die Konzert­pro­gramme. Dabei wird zuneh­mend eine Veren­gung beklagt auf einige große Namen und Werke. Sehen Sie die Gefahr, dass Konzert­säle zum Museum werden?
Nie wird sich darüber beschwert, dass sich die Menschen auf den Weg machen, um den Petersdom zu bewun­dern, oder die barocke Pracht von Salz­burg oder die Mona Lisa, weil jede Gene­ra­tion das Recht hat, diese Meilen­steine der mensch­li­chen Kunst und Zivi­li­sa­tion zu bewun­dern und für sich neu zu bewerten. Unsere klas­si­sche Musik kann man sich aber nicht ins Museum hängen, im Gegen­teil: Das Wunder­bare ist, dass diese Kunst­form nur durch das immer wieder erneute Zum-Klingen-Bringen am Leben und erlebbar bleibt.

Joana Mallwitz

Joana Mall­witz: »Wir müssen den riesigen Schatz des klas­si­schen Reper­toires als Geschenk hüten, pflegen und bewahren.«

Wie viele Möglich­keiten werde ich in meinem Leben bekommen Tristan zu diri­gieren? Wenn ich glück­lich bin, 30 oder 50? Ich weiß es nicht, aber eigent­lich immer noch zu wenig. Wieviel weniger ist es dann erst bei einem Zuhörer. Das heißt, wir sollten uns nicht über den riesigen Schatz des klas­si­schen Reper­toires – dieser 200 Jahre Hoch­zeit der Entste­hung unserer Kunst­form – beschweren, sondern dieses Geschenk hüten, pflegen und bewahren. Zu dieser Verant­wor­tung gehört aber gleich­zeitig das Erfor­schen und Ermög­li­chen von neuen Wegen, Werken und Denk­weisen.

Sir setzt sich seit langem dafür ein, das Ritual von Konzerten aufzu­bre­chen. Er möchte mit den Musi­kern und dem Publikum ein Gemein­schafts­er­lebnis schaffen. So animiert er das Publikum, seine Begeis­te­rung an der Musik zu zeigen, sich zu freuen und auch zwischen den Sätzen zu applau­dieren, was ja als Sakrileg gilt. Teilen Sie seine Sicht? 
Man sollte alles versu­chen, was uns dem Publikum näher­bringt und diese Musik erfahrbar werden lässt, auch wenn man damit Formen aufbricht. Tatsäch­lich ist nämlich die gegen­wärtig als so tradi­tio­nell wahr­ge­nom­mene Form eines Orches­ter­kon­zerts, also Ouver­türe, Solo­kon­zert, Sinfonie, in der Geschichte über­haupt nicht begründet.

Joana Mallwitz

Joana Mall­witz: »Das Konzert, das man heute als Tradi­tion empfindet, ist eine in ihrer Zeit begrün­dete Form, und es gibt keinen Grund sie nicht mit anderen Ideen zu füllen.«

Zu Beet­ho­vens Zeit etwa sahen Konzerte völlig anders aus. Da wurden an einem Abend mehrere Sinfo­nien gespielt. Am Anfang standen die großen schweren Werke. Dann wurde es immer klein­tei­liger, bis am Ende Ouver­türen und einige Arien folgten. Ein solches Konzert würde heute niemand mehr aufs Programm setzen. Man würde es als zu lang und in der Zusam­men­stel­lung als falsch empfinden. So ist das Konzert, das man heute als Tradi­tion empfindet, eine in ihrer Zeit begrün­dete Form, und es gibt keinen Grund sie nicht mit anderen Ideen zu füllen. Man muss auf sein Gespür vertrauen. Und den Kontakt zum Publikum sollte man immer suchen. Wir haben in Nürn­berg die so genannten Expe­di­ti­ons­kon­zerte. Das sind mode­rierte Konzerte, die ich sehr liebe, weil ich auch beim Publikum das Bedürfnis danach spüre.

Der verstor­bene Musik­wis­sen­schaftler erzählte, Zuhörer hätten ihm gesagt, sie würden ein Stück lieber von ihm erzählt bekommen als es sich anzu­hören…
Ich möchte nicht in jedem Sinfo­nie­kon­zert unbe­dingt etwas sagen oder erklären. Man kann eine Beet­hoven-Sinfonie auch genießen, ohne sie erklärt zu bekommen. Die Expe­di­ti­ons­kon­zerte sind einfach ein anderes Format, und ich finde es toll, wie begeis­tert sie in Nürn­berg ange­nommen werden. Sie sind bereits auf Dauer ausver­kauft. Diese Nach­frage zeigt mir, dass es eben nicht stimmt, dass es keine Neugier für klas­si­sche Konzerte gibt. Aber viele Menschen wissen gar nicht, was sie verpassen.

Joana Mallwitz

Joana Mall­witz: »Ein Theater ist ein Ort der Über­wäl­ti­gung. Man sieht die beleuch­tete Bühne und das Orchester, und man spürt, wie der Boden vibriert.«

Jemand, der noch nie in einem klas­si­schen Konzert war und keinen Bezug dazu hat, traut sich viel­leicht nicht. Er weiß nicht, was er damit anfangen soll, oder er denkt, er müsse vorher etwas wissen. Diese Hemm­schwellen versu­chen die Expe­di­ti­ons­kon­zerte aufzu­bre­chen. Ich halte keine musik­wis­sen­schaft­li­chen Vorträge. Viel­mehr möchte ich die Freude am Hören wecken, vorführen, wie etwas klingt und wie es wirkt. Darum muss das auch alles als leben­diges Konzert geschehen. Ich möchte das Publikum zu uns ins Staats­theater locken. So ein Theater ist ein Ort der Über­wäl­ti­gung. Man sieht die beleuch­tete Bühne und das Orchester, und man spürt, wie der Boden vibriert, wenn die Kontra­bässe spielen. Das gehört alles dazu.

Die Noten befragen

Am Pult des Königlichen Opernhauses Kopenhagen
Joana Mall­witz 2014 am Pult des König­li­chen Opern­hauses von
(Foto und Titel­foto: © Nikolaj Lund)

hat das Inter­pre­tieren von musi­ka­li­schen Meis­ter­werken mit der Ausle­gung von Bibel­texten vergli­chen. Hier wie dort gebe es keine letzt­gül­tigen Lösungen, der heilige Text aber sei defi­nitiv. Das klingt rigoros, und es stellt sich die Frage: Was bedeutet dann Inter­pre­ta­tion?
Jeder von uns Musi­kern muss die Noten von allen Seiten befragen. Inter­pre­ta­tion bedeutet für mich nicht, einem Stück meinen Stempel aufzu­drü­cken. Man muss sich bei jeder Note fragen, warum sie steht, wo sie steht, warum sie wieder­kehrt und warum sie anders wieder­kehrt, um von all diesen kleinen Infor­ma­tionen vorzu­stoßen zur großen Idee des Werks.

Joana Mallwitz
(Foto: © Nikolaj Lund)

Joana Mall­witz: »Am Ende soll es sich so anfühlen, als habe ich die rich­tige Wahr­heit gefunden.«

Wenn man ein Werk analy­siert und studiert, lernt man es kennen, wie man einen Menschen kennen­lernt. Man erfährt auch seine Geheim­nisse, und es stellt sich eine Bezie­hung ein. Am Ende soll es sich so anfühlen, als habe ich die rich­tige Wahr­heit gefunden. Das ist natür­lich meine Wahr­heit. Ein Diri­gen­ten­kol­lege kommt zu einer anderen einzigen Wahr­heit. Jeder hat einen anderen Atem und anderen Herz­schlag. Aber das ist für mich die Inter­pre­ta­tion.

Alles kann auch die Partitur nicht fest­legen. Es bleibt Raum zur Ausle­gung. Wie gehen Sie mit diesem Raum um?
Es ist tatsäch­lich sehr unter­schied­lich. Mahler etwa war ein begna­deter Diri­gent. Er testete diri­gen­tisch auch seine eigenen Kompo­si­tionen und wusste genau, wie er etwas hinschreiben musste, damit ein Diri­gent versteht, was gemeint ist. Da ist die Infor­ma­ti­ons­fülle, die uns in den Noten begegnet, eine andere als etwa bei einer Schu­bert-Sinfonie. Schu­bert, der so vieles für die Schub­lade schrieb und wahr­schein­lich nicht erwar­tete, dass wir seine Sinfo­nien heute in den großen Konzert­sälen spielen, empfand es nicht für nötig, so genau zu sein.

Joana Mallwitz

Joana Mall­witz: »Als Diri­gentin nehme ich auf, was mir entge­gen­kommt. Es ist ein Hin- und Hergeben von Impulsen, der sich während des Musi­zie­rens voll­zieht.«

Da entspinnen sich dann die großen Diskus­sionen darüber, was wie gemeint ist, ob eine anders wieder­keh­rende Phrase bewusst anders sein soll oder ob es sich um eine Unge­nau­ig­keit handelt. Sicher werden wir das nie wissen. Je weiter man in der Zeit zurück­geht, desto weniger sagen einem die Noten. In der Barock­musik, aber auch noch in der frühen Klassik wurde vieles gar nicht notiert. Es ergab sich aus dem Konsens, wie bestimmte Stellen gespielt werden. Der Beruf des Kompo­nisten hat sich ja erst mit der Zeit entwi­ckelt: Zunächst musste ein begna­deter Virtuose auf einem Instru­ment auch ein talen­tierter Impro­vi­sator sein: Die Musik wurde spontan erfunden und war nicht dazu gedacht, auf Noten­pa­pier verewigt zu werden.

Mit den Musi­kern im Austausch

Dirigat von Mahlers erster Sinfonie
Joana Mall­witz 2015 am Pult des Phil­har­mo­ni­schen Orches­ters
(Foto: © Lutz Edel­hoff)

Das Spek­trum dessen, was die Tradi­tion an Diri­genten bietet, reicht vom charis­ma­ti­schen Orches­ter­be­schwörer bis zum nüch­ternen Sach­walter. Haben Sie Vorbilder?
Ich habe viele Vorbilder, nicht nur Diri­genten, sondern aus allen mögli­chen Berei­chen. Von jedem kann man sich irgend­etwas abschauen und für sich nutzen. Beim Diri­gieren geht es um Authen­ti­zität. Ich kann nicht die große Kraft des Ausdrucks entwi­ckeln, wenn ich nicht ich selbst bin.

Joana Mallwitz

Joana Mall­witz: »Einen tollen Diri­genten nach­zu­ahmen, bringt einen nicht weiter.«

Da muss jeder Diri­gent heraus­finden, was in ihm drin­steckt und wo seine Stärken liegen, ob er sich als der lustige Char­meur begreift, der Philo­soph oder der strenge Analy­tiker und Didak­tiker. Einen tollen Diri­genten nach­zu­ahmen, bringt einen nicht weiter.

Es gibt einige wenige Ensem­bles, die demo­kra­tisch orga­ni­siert sind. Aber Orchester sind es nicht. Wie voll­ziehen Sie diese Grat­wan­de­rung zwischen einem Einbe­ziehen der Musiker in ein Konzept und dem Durch­setzen eines Konzepts? Es gibt auch Orchester, die in ihrer Orga­ni­sa­ti­ons­struktur demo­kra­tisch orga­ni­siert sind: Nehmen Sie das berühmte Beispiel der Wiener Phil­har­mo­niker. Dennoch braucht ein Orchester eine gewisse Ordnung, und unhier­ar­chisch wird es nie sein. In der Probe trifft am Ende der Diri­gent die Entschei­dung. Dafür besitzt er das Diri­gen­ten­hand­werk und die Technik. Das bedeutet aber nicht, dass ich vorschreibe, wie es gehen soll.

Joana Mallwitz

Joana Mall­witz: »Je weiter man in der Zeit zurück­geht, desto weniger sagen einem die Noten. Die Musik wurde spontan erfunden und war nicht dazu gedacht, auf Noten­pa­pier verewigt zu werden.«

Das Entschei­dende geschieht im Moment des Musi­zie­rens. Als Diri­gentin muss ich durch­lässig sein. Ich nehme auf, was mir entge­gen­kommt, was die Solo-Oboe mir für eine Phrase anbietet, wie die Strei­cher mir die Akzente entge­gen­feuern, wie der Atem der Blech­bläser das unter­stützt, und ich versuche, all diese zu bündeln und in eine Bahn zu lenken. Es ist ein Hin- und Hergeben von Impulsen. Dieser Austausch, der sich während des Musi­zie­rens voll­zieht, ist das Magi­sche, und der erfolgt nicht hier­ar­chisch.

Eine eigene Klang­kultur schaffen

Am Pult der Staatsphilharmonie Nürnberg
Joana Mall­witz am Pult der Staats­phil­har­monie Nürn­berg
(Foto: © Simon Pauly)

Ich zitiere noch einmal Marin Alsop, weil sie als ameri­ka­ni­sche Diri­gentin den Blick von außen hat. Sie erklärte, es gebe in Europa deut­liche Unter­schiede zwischen den Orches­tern. Sie haben bereits viele Orchester diri­giert. Teilen Sie diese Beob­ach­tung?
So allge­mein würde ich es nicht sagen. Natür­lich gibt es tech­nisch bedingte Unter­schiede. Auch die Ausbil­dung unter­scheidet sich. Und die Wiener Phil­har­mo­niker spielen teil­weise ein anderes Instru­men­ta­rium, zum Beispiel die Wiener Oboe und das Wiener Horn. Jedes Orchester besitzt ein leben­diges Gedächtnis, und bei den Orches­tern in Europa reicht dieses oft weit zurück. Wenn man den Rosen­ka­va­lier hört, wird man immer erkennen, ob ihn die Wiener Phil­har­mo­niker spielen.

Joana Mallwitz

Joana Mall­witz: »Wenn in der Geschichte eines Orches­ters so etwas statt­findet wie Brahms Zusam­men­ar­beit mit dem Orchester in , wirkt das noch über Gene­ra­tionen nach.«

Ich habe gerade über das Orchester in Meiningen gelesen und wie sehr Brahms dort mit dem Diri­genten vor Ort zusam­men­ge­ar­beitet hat und seine Kompo­si­tionen bei ihm erproben durfte. Damals war Meiningen das Brahms-Orchester. Musiker und Diri­gent wussten, wie er etwas gespielt haben wollte und waren geschult in seinem Stil. Wenn in der Geschichte eines Orches­ters so etwas statt­findet, wirkt das noch über Gene­ra­tionen nach.

Welche Bedeu­tung hat es für Sie, mit Ihren Orches­tern, also gegen­wärtig der Staats­phil­har­monie Nürn­berg, eine eigene Klang­kultur zu schaffen?
Das ist wichtig. Darum verpflichte ich mich auch gerne für eine längere Zeit. Eine Klang­kultur kann man nur errei­chen, wenn man über längere Zeit mit einem Orchester arbeitet und sich über gewisse Fragen verstän­digt. Aber es ist ein großes Ziel.

Joana Mallwitz

Joana Mall­witz: »Gegen­sei­tiges Vertrauen und die Bereit­schaft der Musiker sich hinzu­geben, spie­geln sich am Ende im Klang wider.«

Der Klang ist das Ergebnis von vielem, ange­fangen bei der Technik über die Arti­ku­la­tion bis hin zu einem gegen­sei­tigen Vertrauen. Damit meine ich nicht nur zwischen dem Orchester und mir, sondern auch das Zusam­men­spiel inner­halb des Orches­ters, die Bereit­schaft der Musiker sich hinzu­geben. Das kann man nur über einen langen Zeit­raum errei­chen, und das spie­gelt sich am Ende im Klang wider.

Die Wiener Phil­har­mo­niker, die Sie bei den Salz­burger Fest­spielen 2020 zur großen Über­ra­schung mit einer Neuin­sze­nie­rung von Così fan tutte diri­giert haben, sind bekannt für ihre melo­di­sche Strei­cher­wärme…
Das leben­dige Gedächtnis ist wahr­schein­lich bei den Wiener Phil­har­mo­ni­kern so stark wie bei wenigen Orches­tern auf der Welt. Für mich als Diri­gentin heißt das, dass ich dem Orchester bestimmt nicht meine Idee von Mozart über­stülpe. Damit würde ich nur alles zerstören.

Joana Mallwitz

Joana Mall­witz: »Der Balan­ceakt zwischen dem, was mir entge­gen­kommt und meiner Idee, macht es aus.«

Man muss immer darauf achten, wo man hinkommt und was einem ange­boten wird. Und von den Wiener Phil­har­mo­ni­kern wird einem etwas Riesiges geboten. Trotzdem muss ich klar sein in meiner Idee von Mozart und dem Werk. Der Balan­ceakt zwischen beidem, dem, was mir entge­gen­kommt, und meiner Idee, macht es aus.

Die Verstän­di­gung mit den Sängern

Joana Mallwitz bei den Salzburger Festspielen 2020
Schluss­ap­plaus nach der Auffüh­rung von Così fan tutte bei den Salz­burger Fest­spielen 2020. Joana Mall­witz stand am Pult der Wiener Phil­har­mo­niker.
(Foto: © Marco Borelli)

Diri­genten beklagen mitunter, sie würden zu spät oder zu wenig in die Proben­ar­beit einbe­zogen. Wie gestalten Sie die Zusam­men­ar­beit mit dem Regis­seur?
Wenn Diri­genten beklagen, nicht einbe­zogen zu werden, dann läuft etwas falsch. Eher ist das Problem, dass Diri­genten selbst­ver­schuldet zu spät einsetzen. Jedem Diri­genten ist es frei­ge­stellt, sich ein Jahr vorher mit dem Regis­seur zusam­men­zu­setzen und bei den Proben dabei zu sein. Mir ist es immer wichtig, mich früh­zeitig mit dem Regis­seur zu verstän­digen.

Joana Mallwitz

Joana Mall­witz: »Ich muss wissen, was der Regis­seur ausdrü­cken will, ob der Subtext für den Sänger klar genug ist, oder ob ich ihm durch die Musik noch eine andere Ebene hinzu­fügen muss.«

Auch ist mir wichtig, während der szeni­schen Proben anwe­send zu sein und nicht erst am Ende zu den Orches­ter­proben zu kommen. Gerade der Austausch zwischen Ausdruck und Musik, zwischen Bühne und Graben wird in szeni­schen Proben erar­beitet. Also muss ich wissen, was der Regis­seur ausdrü­cken will. Ich muss erkennen, ob der Subtext für den Sänger klar genug ist, ob ich ihn unter­stützen kann, oder ob ich ihm durch die Musik noch eine andere Ebene hinzu­fügen muss. Und vor allem ist es mir wichtig, die Sänger kennen­zu­lernen. Das Tempo einer Arie hängt auch davon ab, welche Art von Stimme sie singt. Dafür muss ein Rahmen immer etwas offen­bleiben.

Zum 100. Jubi­läum der haben Sie mit eine Neuin­sze­nie­rung von Mozarts Così fan tutte erar­beitet. Das Publikum und die Kritiker waren begeis­tert, und in einem Inter­view spra­chen Sie von „Ideal­be­din­gungen“ und „einem Glücks­paket“. Worauf kommt es für Sie an bei der Vorbe­rei­tung einer Opern­in­sze­nie­rung? 
Im besten Fall kommen alle Betei­ligten – Regis­seur, Diri­gent und Sänger – mit einer sehr guten Vorbe­rei­tung und klaren Vorstel­lung zur ersten Probe, und durch diese Reibung poten­ziert sich dann in der gemein­samen Arbeit die Ausdrucks­kraft.

Joana Mallwitz

Joana Mall­witz: »Regie und musi­ka­li­sche Idee gehen Hand in Hand: Ideal­be­din­gungen, um Mozart zu proben.«

Im Fall der Così ist es glück­li­cher­weise genauso gewesen. Alles wurde vom Text und von der Musik her gedacht. Meis­tens saßen wir alle zusammen ums Klavier und haben so jede neue Nummer, jedes Rezi­tativ geprobt: Text, Subtext, Farbe, Impuls, Über­gang, Timing. Regie und musi­ka­li­sche Idee gehen dann Hand in Hand: Ideal­be­din­gungen, um Mozart zu proben.

„Theater ist in einem posi­tiven und in einem nega­tiven Aspekt Mode und darauf ange­wiesen, immer wieder neue Varia­tionen zu zeigen, damit es nicht erstarrt“, sagte Dieter Dorn einmal. Das gilt vermut­lich auch für musi­ka­li­sche Deutungen, gerade viel­ge­spielter Werke. Wie empfinden Sie das, wenn Sie eine Oper wie Così fan tutte vor sich haben?
Così ist viel­leicht die zeit­lo­seste Oper von Mozart. Es geht darum, was mit Menschen passiert, mit Menschen in Bezie­hungen, mit Menschen im Verlauf eines gesamten Lebens. Um dies an einem Opern­abend erzählen können, ist das Ganze in diese etwas merk­wür­dige Verwechs­lungs­ge­schichte einge­fasst. Aber die Emotionen sind heute so aktuell wie zu Mozarts Zeit oder in der Zukunft.

Joana Mallwitz

Joana Mall­witz: »Die Mensch­lich­keit muss sich über­tragen, und da kann eine histo­ri­sche Opern­in­sze­nie­rung manchmal aktu­eller sein als eine im modernen Stil.«

Jede neue Produk­tion muss dem nach­spüren, was uns als Zuschauer berührt und uns mit den Prot­ago­nisten iden­ti­fi­zieren lässt. Am Ende hängt die Qualität einer Produk­tion nur damit zusammen und hat nichts mit histo­ri­schen oder modernen Kostümen zu tun. Die Mensch­lich­keit muss sich über­tragen, und da kann eine histo­ri­sche Opern­in­sze­nie­rung manchmal aktu­eller sein als eine im modernen Stil.

Für , der Sie seit langem kennt, sind Sie eine Jahr­hun­dert­di­ri­gentin. Dennoch möchte ich Sie zum Abschluss unseres Gesprächs nach Ihren Plänen und viel­leicht auch weiteren Zielen fragen.
Wenn man als Diri­gentin in die Posi­tion kommt, auswählen zu dürfen, welche Anfragen und Enga­ge­ments man annimmt und welche nicht, dann ist das ein großes Privileg. Mein Ziel ist es, die Orte und Orchester zu finden, bei denen ich das Gefühl habe, wir gehören zusammen, und es kann etwas Großes entstehen, wenn wir gemeinsam musi­zieren.

Joana Mallwitz

Joana Mall­witz: »In Nürn­berg habe ich das Gefühl: Hier kann ich sein, wie ich bin, und es kann etwas Tolles entstehen.«

In Nürn­berg befinde ich mich an einem solchen Ort. Vor meinem Vordi­rigat wusste ich noch nicht, was werden kann. Aber bei der ersten Probe mit dem Orchester hatte ich das Gefühl, unbe­dingt mit diesen Menschen musi­zieren zu wollen. Hier kann ich sein, wie ich bin, und es kann etwas Tolles entstehen.

Fotos: Nikolaj Lund