Julian Prégardien
Musik der Verstörung
von Guido Krawinkel
18. September 2018
Wie ein Prisma, das die Musik in ihre Einzelbestandteile auffächert – der Tenor Julian Prégardien hat eine Bearbeitung von Franz Schuberts Winterreise durch den Komponisten Hans Zender eingespielt.
Wie ein Prisma, das die Musik in ihre Einzelbestandteile auffächert –
der Tenor Julian Prégardien hat eine Bearbeitung von Franz Schuberts
Winterreise durch den Komponisten Hans Zender eingespielt.
Weit aufgerissene Augen, die Haare zerzaust, ein verzweifelter, irrsinnig intensiver, fast schon wahnsinniger Blick, die eigenen Hände halten den Kopf fest: Das Bild auf dem Cover des neuen Albums von Tenor Julian Prégardien irritiert, verstört. Vielleicht genauso wie Hans Zenders Bearbeitung des Liederzyklus Die Winterreise von Franz Schubert, die Prégardien zusammen mit der Deutschen Radiophilharmonie Saarbrücken Kaiserslautern eingespielt hat.
„Es gibt ein Vorbild für dieses Cover“, verrät der 34-Jährige im Interview: „Das Bild Der Verzweifelte von Gustave Courbet. Dieses Bild hat etwas davon, wie ich mir den Winterreisenden vorstelle.“
Entstanden ist das Motiv ganz spontan beim Fotoshooting für das Cover und dennoch sagt es mehr aus, als manch tiefschürfende Analyse: „Wenn man verstört auf dieses Bild reagiert, dann hat es eine Wirkung, die auch Franz Schuberts Musik haben kann. Früher wirkte diese pure, nur von einem Hammerklavier begleitete Musik vielleicht genauso irritierend wie die Zender-Fassung heute.“
2015 hat Prégardien die Winterreise mit fast 31 Jahren zum ersten Mal öffentlich gesungen, zweifellos ein Wagnis: „Dass jüngere Sänger, zumal Tenöre, sich mit der Winterreise präsentieren, ist eher selten“, zumal man für dieses Werk eine gewisse Lebensreife mitbringen müsse, „um das auch intellektuell zu durchleuchten. Wenn ein junger Mann mit einigermaßen naiver, nicht zu kammersängerartiger Stimme das singt, dann finde ich die Fallhöhe sehr, sehr hoch. Es geht um eine gewisse Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit dessen, was da auf der Bühne passiert.“
Und mit der „komponierten Interpretation“, wie Hans Zender seine Fassung betitelt, wird diese Fallhöhe sicher nicht geringer. Prégardien findet sie epochal, doch dem Publikum und gerade dem Sänger verlangt sie einiges ab. „Ich stehe 80 Minuten allein auf der Bühne.“ Eigentlich sei die Winterreise ja kein dramatisches Werk, so Prégardien, aber seine Interpretation zehre von dieser Erfahrung mit Zenders Version bis heute. Im Vorfeld hatte er sich auch andere szenische Versionen angeschaut und kam zum Fazit: „Die Winterreise verträgt einiges.“
Das muss sie bei Zender auch, denn mit der heilen Kunstlied-Idylle, wie sie vielfach zelebriert wird, hat sie in seiner Fassung nicht mehr viel zu tun. „Man kann sich das vorstellen, als würde der Klaviersatz Schuberts durch ein Prisma geschickt und aufgespalten in einzelne, artikulatorische, melodische und semantische Bestandteile. Es ist ein sehr experimentelles Werk. Manchmal klingt es nach einem einfachen Arrangement, manchmal klingt es wie Musik des 21. Jahrhunderts. Die Gesangsstimme bleibt dabei fast gleich wie bei Schubert, es gibt nur wenige klangliche Verfremdungen.“
Hinzu kommt bei Zender die szenische Komponente, die auf dem Album zwar nicht sichtbar ist, für Prégardien bei seiner Interpretation aber immer mitschwingt: „Ich glaube, dass das Liedrepertoire wie kein anderes Repertoire das Potenzial hat, die Menschen durch direkte Emotionalität zu berühren.“ Prégardien will das erfahrbar machen, „auch für ein Publikum, das nicht intellektuell vorgeprägt ist.
„Es soll keine intellektuelle Leistung sein, von etwas berührt zu werden, nur weil man weiß, dass es einen berühren muss“
Das Vorurteil gegenüber der Gattung, dass Liedgesang aufgrund komplizierter Texte und komplizierter Musik eben gleich doppelt unzugänglich sei, lässt er nicht gelten: „Ich glaube, dass Schubert es schafft, Lyrik auf eine Art in Musik zu übersetzen, die berührt, auch ohne dass man das Versmaß oder die Andeutungen im Text nachvollziehen muss. Durch die Musik wird die Lyrik schon in gewisser Weise interpretiert, und zwar so, dass sie verständlicher wird.“
Für Prégardien ist das eine Lebensaufgabe, eine, die ihre Wurzeln in den ersten Erfahrungen als Sänger hat. „Ohne die Limburger Domsingknaben gäbe es in der Familie Prégardien keine Sänger. Und auch ohne den Kammerchor Stuttgart wäre ich heute nicht der Sänger, der ich bin. Neben der familiären Disposition ist er der Nährboden, auf dem meine Karriere gewachsen ist.“ Deshalb engagiert er sich auch für den musikalischen Nachwuchs. Im Gedenken an seinen verstorbenen Großvater hat er an vier Limburger Kindergärten das Projekt „Canto elementar“ ins Leben gerufen: Senioren gehen dorthin und singen Volkslieder. Ziel ist, dass Musik „wieder Teil des Alltags wird, aber nicht nur Musik, auch ganz allgemein die schönen Künste“.
Denen widmet sich Prégardien, der seit einiger Zeit auch als Professor an der Münchner Musikhochschule lehrt, mit ganzer Kraft. Allein in der Zeit vor der Aufnahme hat Prégardien die Winterreise innerhalb von drei Monaten 15 Mal gesungen – in verschiedensten Besetzungen: mit Hammerklavier und Spezialisten für historische Aufführungspraxis, mit einer Koryphäe wie Gerhard Oppitz, mit einem Gitarrenduo, in einer Bearbeitung für Bläserquintett und Akkordeon – und außerdem an ganz verschiedenen Orten: vom Wohnzimmer über die Hotellobby bis zum Kirchenraum. Für den Tenor war das eine spannende und bereichernde Erfahrung. „Ich hoffe, dass das Stück mich bis zum Ende begleitet.“